Maria Nurowska: Briefe aus Katyn»Sollte mich jemand fragen, was ich vom Leben erwarte, würde ich antworten: Ich will nach meinen eigenen Regeln leben!« (Janina Lewandowska in »Briefe aus Katyn«)

Der Haltepunkt Gnezdovo kurz vor der westrussischen Stadt Smolensk war zwischen März und Mai 1940 Endstation für 4400 polnische Offiziere. Nur wenige Autominuten davon entfernt, in einem Waldstück in der Nähe des Dorfes Katyń, wurden sie auf Befehl von Josef Stalin erschossen. Jahrzehnte lang wurden diese Taten vertuscht und für Propagandazwecke missbraucht. Aufgeklärt wurden die Fälle erst nach Gorbatschows Glasnost-Kampagne. Zu den Opfern gehörte als einzige Frau die Tochter des berühmten polnischen Generals Dowbor-Muśnicki, Janina Lewandowska.

Eine der populärsten Schriftstellerinnen der polnischen Gegenwartsliteratur, Maria Nurowska, ist für ihren Roman »Briefe aus Katyn« auf Spurensuche gegangen und hat sich ihrem Schicksal angenommen. Zum 80. Jahrestag des Massakers von Katyń im April dieses Jahres ist ihr Buch am 19. Februar im Verlag Ebersbach & Simon erschienen. Es wurde von Marta Kijowska ins Deutsche übersetzt.

Janina Lewandowska ging gern ihre eigenen Wege, widersetzte sich dem strengen Willen ihres Vaters und wurde Sängerin. Sie probierte sich in einer Kabarett-Truppe aus, gab jedoch den Traum vom Fliegen längst nicht auf. Janka ließ sich zur Pilotin ausbilden und wurde Europameisterin im Fallschirmspringen in Paris. Im Juni 1939 heiratete sie ihren Fluglehrer Mieczysław Lewandowski. Er war ihre große Liebe. Mit dem Kriegsausbruch wollte Janka sofort ihr Heimatland verteidigen. Sie zog in den Krieg, ohne auf ihren Mann zu warten oder ihm eine Nachricht zu hinterlassen. Die mutige Frau ging davon aus, dass sie nicht länger als zwei Wochen fort sein würde. Es dauerte nicht lange, bis sie bei einem Einsatz in sowjetische Gefangenschaft geriet.

Als einzige Frau genoss die »Fliegerin« unter den polnischen Offizieren nahe der Kleinstadt Koselsk in der westrussischen Oblast Kaluga höchsten Respekt. Dort betrieb die sowjetische Geheimpolizei NKWD von Ende September 1939 bis Juli 1941 im enteigneten Optina-Kloster ein Internierungslager für polnische Kriegsgefangene. Janka erhielt im Lager einen separaten Schlafplatz in einem Verschlag unter der Treppe. Ihr treuer Begleiter war ein kleiner Hund, der ihr zugelaufen war.

Maria Nurowska lässt Janka ihre Geschichte selbst erzählen. Als Form hat sie sich für das Brief-Tagebuch entschieden, weil sie während ihrer Quellensuche auf eine Studie über die Tagebücher der ermordeten Offiziere stieß. Die Autorin fand heraus, dass die Gefangenen bis zu den letzten Momenten im Wald von Katyń ihre Gedanken und Gefühle festgehalten hatten. Die Tatsache, dass diese Schriften in der Erde überlebt haben und zusammen mit ihren Verfassern ausgegraben wurden, verursacht in meinem Herzen seltsame Beklommenheit.

Ich stelle mir vor, dass auch der Onkel meiner Schwiegermutter, Władysław Godziszeski (1895 – 1940), ähnliche Aufzeichnungen hinterlassen haben könnte. Er war Professor für Geschichte und promovierte an der Jagiellonen-Universität in Krakau. Godziszeski kam ebenfalls in Katyń ums Leben. Mit dem Tod meiner Schwiegereltern ging ein Exemplar seiner Doktorarbeit und ein Zeitungsartikel über sein Leben in unseren Besitz über. Nurowskas Roman erfüllt beides mit Leben.

Neben Jankas Geschichte in Tagebuchform verfolgt der Leser die Erlebnisse ihres Mannes Mieczysław Lewandowski aus einer neutralen Perspektive. Lewandowski wurde nach Kriegsbeginn von der Gestapo verhaftet, floh jedoch nach kurzer Zeit aus dem Generalgouvernement über Rumänien nach Großbritannien und nahm an der Luftschlacht um England teil. Nach Ende des Krieges kehrte er, in der Hoffnung seine Frau wiederzufinden, in sein Heimatland zurück. Kurze Zeit später ging er als Exilant nach England, heiratete wieder und gründete eine Familie. In Maria Nurowskas Roman erhält er kurz vor seinem Tod ein Päckchen mit den Tagebuch-Briefen seiner geliebten Janka. Mieczysław Lewandowski starb 1997 in Blackpool.

Plötzlich sah er sie auf sich zukommen. Sie trug ihren Fliegeroverall und lächelte dieses ihm so gut bekannte, geheimnisvolle Lächeln. Er wollte etwas sagen, sich irgendwie rechtfertigen, aber sie legte einen Finger auf seine Lippen. Er sah sie an, ihr Gesicht, bis sie sich entfernte verschwand, wie alles ringsherum.

Maria Nurowskas einfühlsamer Ton trägt den Leser durch Janina Lewandowskas viel zu kurzes Leben. Man erlebt hautnah, wie Janka das Dasein im Internierungslager mit scheinbar unbedeutenden Tätigkeiten und Gesten menschenwürdiger erscheinen ließ und lernt eine starke Frau kennen, die weiß was sie will. Hochachtung bleibt, Bewunderung und die Gewissheit, dass totalitäre Gesellschaftssysteme und Krieg den Menschen unfassbares Leid zufügen.

Schätzen und schützen wir unsere Freiheit, auch in dem wir uns immer wieder erinnern. Maria Nurowskas Buch ist ein ausgezeichnetes Zeitzeugnis. Deshalb möge es viele Leserinnen und Leser erreichen!

Maria Nurowska: Briefe aus Katyn | Deutsch von Marta Kijowska
Ebersbach & Simon 2020 | 240 Seiten | Jetzt bestellen