Dass mein Herz für unabhängige Verlage und ihre Vielfalt schlägt, zaubert mir immer wieder handverlesene Raritäten auf meinen Büchertisch. Der Roman »Mühlstein« der im deutschsprachigen Raum eher weniger bekannten englischen Schriftstellerin Dame Margaret Drabble (*1939) aus dem Jahr 1965 gehört auch dazu. Er erschien im vergangenen Jahr in einer neuen Übersetzung von Irmela Erckenbrecht und mit einem wundervollen Nachwort von Verena Roßbacher im Schweizer Dörlemann Verlag.
Erzählt wird die Geschichte der jungen Rosamund Stacey, die als Cambridge-Absolventin ebenso kultiviert wie gebildet beschrieben wird. Sie arbeitet an ihrer Doktorarbeit über elisabethanische Sonettsequenzen. Rosamund teilt die liberale Lebensanschauung ihres gleichaltrigen Freundeskreises und scheint angekommen in den Swinging Sixties. Gleichzeitig bezeichnet sie sich in sexueller Hinsicht als »Viktorianerin«. Sie datet regelmäßig zwei Männer, vermeidet es jedoch um jeden Preis, mit einem zu schlafen. Dabei glaubt jeder von beiden, dass sie sich mit dem anderen einließe.
Nach einem One-Night-Stand (ihrem einzigen sexuellen Kontakt) mit einem Moderator der BBC wird sie schwanger. Schlechte Voraussetzungen als Unverheiratete in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Mit einer Flasche Gin und einem heißen Bad versucht Rosamund halbherzig die Schwangerschaft vorzeitig zu beenden. Die Rufnummer des Arztes, der den Abbruch vornehmen soll, ist besetzt. Warum noch einmal anrufen? »… ich habe einfach nie daran geglaubt, dass ein einziges uneheliches Kind meiner Karriere Schaden zufügen könnte.« Rosamund beschließt, ihr Kind auszutragen und allein aufzuziehen.
Um ihren Knöchel trug sie ein Schild mit dem Namen Stacey. Sie legte sie in meinen Arm, und ich saß da und schaute sie an. Mit ihren großen blauen Augen schaute sie zurück, als würde sie mich erkennen. Es wäre zwecklos, wollte ich versuchen zu beschreiben, was ich dabei empfand. Liebe könnte man es vermutlich nennen – die erste meines Lebens.
Es bereitet großes Vergnügen, wie Margaret Drabble in einer einfachen Alltagsgeschichte das Wort Liebe mit unterschiedlich großen Scheinwerfern beleuchtet. Was macht diesen Begriff aus, wenn wir ihn für unsere unterschiedlichsten Gefühlsregungen benutzen? Was fasziniert an Rosamund? Ihre Naivität, zu habilitieren und dann den »Super-Job« anzunehmen? Ihre pragmatische Herangehensweise, mit ihren Eltern zu verhandeln? Amüsiert verfolgt man, wie die Protagonistin nach Lösungen sucht, eine gute Betreuerin für ihre Tochter Octavia findet, in Peinlichkeitsfallen tappt und dabei nichts beschönigt. Ihre grundsätzliche Haltung, dass man allein im Leben klarkommen müsse, ist dabei wenig hilfreich. Im weiteren Verlauf entwickelt die Autorin Rosamunds Figur mit großem Einfühlungsvermögen.
Welch urkomische, bisweilen groteske Szenen sich dabei abspielen, ist ein reines Lesevergnügen. Man erlebt Rosamund gleichzeitig unerfahren und klar, unabhängig und doch hilfebedürftig, fortschrittlich, lösungsorientiert und hinreißend unprofessionell.
Wie die Bindung an ihr Kind wächst, beschreibt Margaret Drabble so leichtfüßig und humorvoll, dass man die Protagonistin nur ins Herz schließen kann. Keine andere soziale Beziehung hat eine solche Kraft. Rosamund setzt diese (für sie verblüffende) Erkenntnis als Maß für die Tiefe ihrer Empfindungen in einer zukünftigen Partnerschaft. Dabei hätte sie es bis vor kurzem nicht für möglich gehalten, so nachdrückliche Gefühle für ihre kleine Tochter zu entwickeln. Wieviel Mut zur Auseinandersetzung in der jungen Mutter steckt, als ihr Kind lebensbedrohlich erkrankt, hinterlässt bei mir einen bleibenden Eindruck.
Irmela Erckenbrechts Übersetzung findet für die Anerkennung einer bewusst alleinerziehenden Mutter den passenden Ton. Diese Leichtigkeit und Bodenhaftung, die mich zustimmen, die Hände über dem Kopf zusammenschlagen oder einfach nur mitfühlen ließ, wirkt gegenwärtig, auch wenn der Roman in den 1960er Jahren spielt. Rosamund Stacey hat einen Platz in meinem Herzen erobert, ohne den berühmten »Mühlstein um den Hals«, versteht sich!
Margaret Drabble: Mühlstein | Deutsch von Irmela Erckenbrecht
Dörlemann 2024 | 280 Seiten | Jetzt bestellen