Lothar Quinkenstein: Souterrain: Skizze für einen RomanWir wussten von nichts, muss sich Tobias heute eingestehen, buchstäblich von nichts … Aber zeigte denn die Zeitung nicht auch Fotos aus Danzig, aus Schlesien? Und in den Nachrichten wurden die Bilder abends ebenfalls ausgestrahlt. Doch zu fern lag es den Schmorzwiebelheimwegen, um wahrgenommen zu werden,…«

Im März dieses Jahres erschien bei der edition.fotoTAPETA der Roman »Souterrain« von Lothar Quinkenstein. Seit ihrer Gründung im Jahr 2007 erzählen die Bücher dieses kleinen Verlages Geschichte und Geschichten unserer östlichen Nachbarn. Das blaue Cover ist dabei ihr Markenzeichen. »Souterrain« ist als Skizze für einen Roman angelegt. Ein namenloser Erzähler navigiert den Leser durch die Geschehnisse um und über Tobias, der als Deutschlehrer nach Polen kommt, um am Ende dort zu bleiben. In der Stadt, die einst Posen hieß, findet er Freunde, trifft sich mit ihnen in der »Krone«.

An einem Kneipentisch dabeizusitzen, auch wenn man nicht jede Pointe versteht, ist allemal besser als Fernsehdialogen zu lauschen, die durch die dünnen Wände plappern.

An den bruchstückartigen Erlebnissen von Tobias teilzuhaben, mutet nur anfangs mühsam an. Mal teilt er sich in Briefen an Ulrike mit, mal philosophiert er mit seinem Freund, dem Erzähler, während eines seiner unzähligen Spaziergänge. An anderer Stelle verfolgt der Leser Tobias‘ Werdegang. Die unterschiedlichen Begegnungen und Zufälligkeiten spiegeln wunderbar die anfänglichen Bedenken, die Zwiespältigkeit und die Entwicklung der Hauptfigur. Zu Beginn fühlt sich auch der Leser unsicher, hin und her gerissen von unbekannten Orten, Redewendungen und Traditionen. Im Verlauf tastet man sich langsam an die Denkweisen und Intentionen von Tobias‘ neuen Freunden heran.

Es sind Quinkensteins subversive Botschaften, die den Leser fesseln. Man entdeckt sie immer wieder zwischen den Zeilen und spürt ihnen im Fortgang des methaphernreichen Textes regelrecht nach. Bald fühlt man sich ein in die Charaktere der anderen Protagonisten und verfolgt gespannt die Wege von Dagmara, Maciej, Wlodek und Gosia, Jarek, Przemek und Piotr. Ihre Charaktere sind so unterschiedlich wie ihre Lebensmodelle und Ansichten. Man begleitet Tobias auf Wohnungssuche und während der ersten Gehversuche an der Universität, hört mit Filip Chopin und sieht das Gemälde »Gastmahl mit Faun« des Malers Jerzy Piotrowicz geradezu vor sich.

Die Leichtigkeit …, die ihn hier ergreift, ist neu, …Bleiben, denkt er in Anbetracht der Neige seines Glases …

Mit dieser Leichtigkeit lässt Quinkenstein seine Leser Kapitel für Kapitel Polen ergründen. Man weiß nun, was ein zapiekanka oder eine firma handlowa ist, möchte Ptasie Mleczko, die viel gepriesenen Vogelmilchpralinen und die köstlichen Waffelröllchen mit Cremefüllung (rurki) probieren. DDR war etwas anderes, wird Tobias von seinem neuen Freundeskreis aufgeklärt, »… fast schon Westen. Wenn man ein bisschen die Augen zugekniffen hat vor ’nem Ostberliner Schaufenster …«

Weltanschauliche Fragen lassen Platz, seinen eigenen Standpunkt zu reflektieren und den der jungen Polen nachzuvollziehen. Auf welcher Seite wollte man als Kind sein, wenn man Partisanen und Deutsche gespielt hat? Spielte man so etwas überhaupt in Deutschland? Was spielte man in der DDR?

Wie war das, als in Polen nur noch Essig und Senf in den Lebensmittelläden standen und man morgens um drei aufgestanden ist, um für Brot Schlange zu stehen? Was sind dagegen die unendlichen Praktika wert, an denen Tobias fast verzweifelte? Niemand seines neuen Bekanntenkreises hat je ein Seminar zum Start in die Selbständigkeit besucht. Der Chef des Zeitschriftenunternehmens, für das Tobias zeitweise arbeitet, begann mit einer Campingliege voller Video-Kassetten.

Einfühlsam, poetisch und tiefgründig setzt sich Lothar Quinkenstein mit unserem Nachbarland und seinen Menschen auseinander, in dem er selbst von 1994 bis 2011 lebte und seit 2012 an der Adam-Mickiewicz-Universität in Poznań im Rahmen des gemeinsamen Studienganges mit der Europa-Universität Frankfurt/Oder Interkulturelle Germanistik unterrichtet.

»Souterrain« bezeichnet ursprünglich den unter der Erde befindlichen Teil eines Gebäudes, auch Kellergeschoss genannt. Nach der Lektüre ist der Leser unserem östlichen Nachbarn ein Stückchen näher gekommen, ist im besten Fall neugierig geworden: auf die viel beschriebene Gastfreundschaft, auf die weltoffenen Menschen, ihre Erfahrungen und Sehnsüchte. Möge dieses Buch viele Leser finden, von Hand zu Hand gehen – oberhalb vom Souterrain, versteht sich.

Lothar Quinkenstein: Souterrain: Skizze für einen Roman | Deutsch
Edition.fotoTAPETA 2019 | 336 Seiten | Jetzt bestellen