Wir waren vom Meer umschlossen, und während die Kanonenboote vor der Küste patrouillierten, flogen Hubschrauber über unsere Köpfe hinweg. Es gab keine Zeitung, kein Radio, nichts, was unsere Gedanken hätte führen können. Wir vertrauten auf das gesprochene Wort. Die Rothäute wollten die Insel mitsamt den Rebellen unterwerfen. So viel hörten wir. »Da kann ich ihnen nur viel Glück wünschen«, sagte meine Mum. So viel kümmerte uns das.
Die Insel Bougainville im Südpazifik versinkt eines Tages im Chaos. Die Regierungstruppen terrorisieren die Bevölkerung auf der Suche nach Rebellen. Erzählt werden die Ereignisse aus der Sicht der jungen Mathilda. Seit alle Lehrer von der Insel geflohen sind, verfügt sie über mehr Freizeit, als sie sinnvoll zu füllen vermag. Bis eines Tages der letzte Weiße auf der Insel die vakante Stellung übernimmt. Mr. Watts hat nicht auf alles eine Antwort, aber auf einem Gebiet ist er unschlagbar: Charles Dickens. Er liest den Schülern dessen Roman »Große Erwartungen« vor. Jeden Tag ein Kapitel, neunundfünfzig Tage lang.
Es war immer eine Erleichterung, zu »Große Erwartungen« zurückzukehren. Das Buch enthielt eine heile und sinnvolle Welt, anders als die unsrige. Wenn wir das schon als Erleichterung empfanden, was muss es dann Mr. Watts bedeutet haben? (…) Manchmal, wenn er las, lächelte er in sich hinein und überließ uns die Frage, warum – momentan fühlten wir uns, wie so oft, nur daran erinnert, wie wenig wir ihn doch kannten.
Mathildas strenggläubige Mutter sieht mit wachsendem Unbehagen, wie sich ihre Tochter immer mehr Mr. Watts und dem Buch von Charles Dickens zu und gleichzeitig von ihr und der Bibel abwendet. Sie plant, Watts Einfluss zu brechen und stürzt damit das ganze Dorf ins Verderben. Zudem erfahren die Soldaten von dem rätselhaften Mister Pip und halten ihn durch eine Reihe von Missverständnissen für einen Rebellen, ohne zu ahnen, dass er die Hauptfigur von »Große Erwartungen« ist. Sie verlangen seine Auslieferung und drohen, das Dorf dem Erdboden gleichzumachen. Doch das Buch und damit der einzige Beweis für den fiktionalen Charakter Mister Pip, ist plötzlich verschwunden.
Man muss »Große Erwartungen« nicht kennen, um der Handlung zu folgen, aber man bekommt große Lust darauf. So wie die ganze Schulklasse den Abenteuern von Pip, Estella und Magwitch lauscht, so gespannt verfolgt der Leser dieses Buches die Ereignisse um Mathilda und Mr. Watts. Jones schafft es, die Faszination von Büchern zu vermitteln. Anstelle von Dickens‘ Roman kann jeder Leser sein eigenes Lieblingsbuch einsetzen und wird auf das angenehmste daran erinnert, warum wir Bücher lieben. Es zeigt die Macht der Phantasie und die Magie des Lesens.
Als im Buch das einzige Exemplar von »Große Erwartungen« ein Opfer der Flammen wird, beginnt die Klasse ein einzigartiges Experiment. Sie fangen an, die Geschichte aus der Erinnerung neu zu erschaffen. Wie Puzzleteile tragen sie alles zusammen, ergänzen sich gegenseitig und Mr. Watts schreibt alles gewissenhaft nieder.
»Mister Pip« ist spannend, unterhaltsam und wirklich wunderschön. Allerdings kein Kinderbuch. Eine bittere Lehre, die man aus der Lektüre ziehen muss: Literatur kann uns an bessere Orte entführen, Trost und Freude spenden und über ein freudloses Dasein hinweghelfen, aber sie kann nicht vor der Brutalität der realen Welt beschützen.
Lloyd Jones: Mister Pip | Deutsch von Grete Osterwald
rororo 2009 | 288 Seiten | Jetzt bestellen