Mit ihren zahlreichen ins Deutsche übertragenen Romanen und Essays gehört die russische Autorin Ljudmila Ulitzkaja hierzulande gegenwärtig zu den meistgelesenen Autor*innen ihres Heimatlandes. In den Romanen liegt ihr Schwerpunkt auf Familien- und Beziehungsgeschichten, die sie in den Lebensumständen der ehemaligen Sowjetunion verortet.
Das Buch »Jakobsleiter«, 2017 erschienen im Carl Hanser Verlag München, ist auch eine russisch-sowjetische Familiensaga. Am Schicksal von Jakow Ossetzki und seiner Enkelin Nora beleuchtet Ljudmila Ulitzkaja große historische Veränderungen und unvorstellbare Brüche in der unmittelbaren Umgebung der beiden Hauptgestalten.
Hunderttausend Wesenskerne in einer bestimmten Anordnung bilden einen Menschen, die zeitweilige Heimstatt jedes Individuums. Das ist Unsterblichkeit. Und du, Mensch, ob weißer Mann oder schwarze Frau, Dummkopf, Genie, nigerianischer Pirat, Pariser Bäcker, Transvestit aus Rio des Janeiro oder alter Rabbiner aus Bnei Berak, du bist nur ihr zeitweiliges Asyl.
Der junge Jude Jakow Ossetzki (1890-1955) ist gut gebildet und hofft auf eine bessere Zukunft. Unbewusst und trotz seines beruflichen Engagements gerät er in die Fänge des stalinistischen Systems. Es folgen endlose Aufenthalte in der Verbannung und unterschiedlichen Lagern. Mit seiner Frau Maria kommuniziert er von da an über Jahre hinweg fast nur brieflich. Doch »Briefmarken halten keine Ehe zusammen« und Maria schreibt ihm in einer ihrer wenigen Antworten, dass sie sich als Bolschewikin sieht. Mit der Zeit reagiert sie immer seltener auf seine Briefe, bis sie sich eines Tages ganz von ihm abwendet und ohne sein Zutun von ihm scheiden lässt.
Jakows Enkelin Nora wurde 1943 geboren. Während seines ganzen Lebens begegnet er ihr lediglich zweimal. Nora arbeitet als Bühnenbildnerin und versucht, ihre künstlerischen Ambitionen, soweit es ihr möglich ist, mit Leben zu erfüllen. Eine Gratwanderung mit Höhen und Tiefen entlang der streng vorgegebenen politischen Konstellationen. Nora arbeitet mit dem verheirateten georgischen Regisseur Tengis zusammen, der sie immer wieder für gemeinsame künstlerische Projekte begeistert. Zeitweise wohnt er auch bei Nora. Sein kompliziertes Wesen lässt ihn jedoch unzuverlässig und unberechenbar wirken. Von Tengis wiederholt sitzen gelassen, gesteht sie am Ende dennoch ein, dass er die Liebe ihres Lebens war.
Als Noras Großmutter Maria stirbt, nimmt sie eine Weidentruhe mit Büchern an sich, die sie erst viele Jahre später öffnet. Darin befindet sich der Briefwechsel ihrer Großeltern.
Nora las eine Woche lang, fast ohne Unterbrechung. Sie weinte, lachte, staunte. Freute sich. Im selben Bündel entdeckte sie Tagebücher, die Jakow bereits als Jugendlicher angefangen hatte. Die Geschichte einer großen Liebe, einer Sinnsuche …
Zahlreiche weitere Figuren bereichern dieses jahrhundertumspannende Epos, weswegen der abgebildete Stammbaum auf dem Vorsatzpapier des Buches hilfreich ist. Man erfährt etwas über Jakows und Marias Vorfahren, Noras Eltern und ihren Sohn Jurik. Der stammt aus Noras sehr frühen, gescheiterten Ehe. Jurik entwickelt sich nicht so, wie seine Mutter es sich vorstellt und wird als Jugendlicher zu seinem Vater Viktor geschickt. Viktor lebt und arbeitet inzwischen als erfolgreicher Wissenschaftler in den USA. Wird auch Jurik dort seinen Weg finden?
Ljudmila Ulitzkaja lässt die Lesenden an vielen Einzelschicksalen teilhaben, erzählt methaphernreich Geschichten in der Geschichte, mal kürzer, mal länger, springt zwischen den Zeiten oder verliert sich in Jakows unendlichem Wissen und ausuferndem Literaturkonsum. Sie knüpft Fäden voller Leben zwischen Kiew, Moskau, Sankt Petersburg, Tbilissi, sowjetischen Gulags, Charkow, der russischen Provinz und New York. Dabei streift sie die Welt der Künste ebenso wie die der Wissenschaft.
Durch die immer wieder eingestreuten zitierten Tagebuchaufzeichnungen von Ljudmila Ulitzkajas eigenem Großvater Jakow Ulitzki und dessen Briefwechsel mit seiner Frau zwischen 1911 und 1954 wirkt dieser Roman besonders lebendig und authentisch. Auch, wenn Ulitzkaja die zahlreichen Lücken mit ihrer eigenen Fantasie gefüllt hat, vermitteln die Briefe die eigentliche Wahrheit jenseits der Geschichtsbücher. Sie zeigen jedoch auch die große Sprachlosigkeit der Menschen auf, weil Antworten fehlen. Stufe um Stufe, einer Jakobsleiter gleich (dabei aber nicht chronologisch), verfolgt man als Leser*in den Weg der Familie von Jakow und Maria – ausgelöst durch Marias Tod. Einfühlsam und mit viel Sorgfalt hat Ganna-Maria Braungardt diese facettenreiche Familiengeschichte ins Deutsche übertragen. Am Ende holt einen das biblische Sinnbild wieder ein. Als Buchtitel dienend steht es gleichzeitig als dessen Allegorie:
Jakob träumte von einer Leiter, auf der Engel auf- und niedersteigen, und von ganz oben sprach Gott zu ihm, sinngemäß: »Hier liegst du nun, und ich verkünde dir, dass die Erde, auf der du schläfst, dir geschenkt wurde, ich segne dich und alle deine Nachkommen und durch dich auch alle übrigen Geschlechter.«
Sind wir so wie unsere Vorfahren? Bekommen wir ihre Erfahrungen und ihr Wissen mit? Nach welchen Gesetzen und Regeln wenden wir es an? Vielleicht folgen wir unseren Vorfahren ganz einfach ohne Richtlinien. Wie hoch ist dann der Anteil dessen, was man Schicksal nennt? Die Aufeinanderfolge der Generationen verbindet das Vorher mit dem Nachher. Wer seinen Platz in der Gesellschaft finden will, muss erkennen und verstehen, dass er/sie nur ein Glied in der Kette (der Leiter) ist.
Ljudmila Ulitzkaja: Jakobsleiter | Deutsch von Ganna-Maria Braungardt
Hanser 2017 | 608 Seiten | Jetzt bestellen