Lennart Loß: Und andere Formen menschlichen Versagens»HILFE!«

Er presste die Augen zusammen, lauschte in den dunklen Pazifik. Nichts. Sohr hatte oft geschrien in seinem Leben. Als die erste Rohrbombe in die Luft ging, die er gebaut hatte. Als die Leichenwagen an ihm vorbei auf die JVA Stammheim zufuhren. Aber jetzt schrie er so laut wie nie zuvor: »HIER!«

Plötzlich schwamm sie neben ihm: Die Frau, die ihn auf die Bordtoilette vorgelassen hatte. Sie griff nach seinem Unterarm, er nach ihrem. Während Sitz 9A von der Absturzstelle wegtrieb, verstummten die Schreie der anderen Überlebenden.

Ein Passagierflugzeug stürzt über dem Südpazifik ab. Tagelang treibt die junge Marina auf dem Ozean, bis am Horizont eine einsame Insel erscheint. 25 Jahre lang bleibt Marina verschollen.

Lennardt Loß erzählt in seinen ineinander verwobenen Geschichten von Menschen, deren Lebenswege sich mit dem von Marina kreuzten. Beispiele? Ein ehemaliger RAF-Terrorist, der mit ihr gegen das Ertrinken ankämpft. Ihre Mutter, die einen Splatter-Film drehen will, um den vermeintlichen Tod der Tochter zu verarbeiten. Marinas Freund, ein Amateurboxer, der aus ihrer Geschichte Kapital schlagen kann. Der Kapitän eines Aida-Schiffes mit einem faustgroßen Gehirntumor. Ein kanadisches Handmodel für Apple-Produkte, das zufällig auf Google Earth eine wichtige Entdeckung macht.

Darf es auch noch etwas verrückter sein? Na, aber gerne doch! Bitteschön: Ein munteres Spiel aus Rückblenden und Vorwegnahmen, das nach und nach die eigentliche Handlung preisgibt. Eine Wendung folgt auf die nächste, fernab aller Wahrscheinlichkeiten, in einem Tempo, das dem Leser schlicht keine Zeit lässt, über Realismus nachzudenken. Aber das möchte man auch nicht, sondern sich dem Rausch hingeben. Sich auf Teufel komm raus unterhalten lassen, in Form einer literarischen Druckbetankung. Mit einer knackigen Geschichte, mit unverbrauchten Ideen und einem unvorhersehbaren Verlauf. Schnell, knapp und trotzdem ungeheuer präzise. Die Sprache ist befreit von allen überflüssigen Wörtern, und es gibt keine Längen in diesem süffigen Text.

Kritik? Die Figuren sind rein funktional, die Handlung ist absurd bis grotesk, und was soll ich dazu sagen? Ich liebe es.

Ein beeindruckendes Debüt, das auf jeder einzelnen Seite hervorragend unterhält. Selten fühlte ich so viel Bedauern darüber, die letzte Seite eines Buches erreicht zu haben. Deshalb: Unbedingt lesen!

Lennardt Loß: Und andere Formen menschlichen Versagens | Deutsch
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