Ich bin keine Schmarotzerin. Als der Krieg ausbrach, war ich Studentin. Mein Vater war Lehrer, meine Brüder und Schwestern waren Lehrerinnen und Ingenieure. Wir hatten ein angenehmes Leben. Wir waren produktiv. Ich will von diesem Land keine Almosen. Geflüchtete kommen nicht, um sich zu nehmen, was euch gehört. Wir wollen arbeiten, wir wollen zur Schule gehen, wir wollen vollständige und aktive Mitglieder der Gesellschaft werden. Wir sind keine Blutsauger oder Parasiten oder Ungeziefer. Wir brauchen nur ein wenig Hilfe. Das ist alles.
Dies schreibt die junge Ich-Erzählerin in Layla AlAmmars Roman »Das Schweigen in mir«, der im GOYA Verlag erschienen ist und von Yasemin Dinçer aus dem Englischen ins Deutsche übertragen wurde. In kurzen, knapp bemessenen Kapiteln folgt man den täglichen Beobachtungen einer aus Syrien geflüchteten Frau. Sie lebt in einer britischen Großstadt und ist aufgrund ihrer traumatischen Erfahrungen verstummt. Ob sie sich nur weigert zu sprechen oder es gar verlernt hat, weiß sie selbst nicht genau.
Die Erzählerin schaut von ihrer Wohnung aus in die Fenster der anderen. Die Geschichten, die hinter diesen Fenstern passieren, spielen sich gleichzeitig ab. Mädchen schminken sich, Männer treiben Sport, Familien essen zu Abend, Eheleute haben Sex. In der Ferienwohnung wechseln die Gäste, ein altes Paar frönt stets demselben Tagesablauf. Einen Nachbar hat die Protagonistin »Mann-ohne-Licht« getauft, weil er äußerst selten das Licht anschaltet. Eine Familie kennt sie vom Einkaufen in dem kleinen arabischen Laden um die Ecke. Auf der Haut der Mutter sind manchmal »Handabdrücke zu sehen, lila Stellen von Fingern um ihren Arm oder ein Daumenabdruck an ihrem Schlüsselbein«. Das Gewaltpotenzial des Vaters füllt einen Nebenschauplatz im Roman und zeigt der Ich-Erzählerin die Grenzen ihres schweigenden Beobachtens auf.
Die Protagonistin schreibt Kolumnen für ein Nachrichtenmagazin und hält per E-Mail Kontakt zur Redaktion. Ihre Redakteurin wünscht sich anstelle ihrer Beobachtungen mehr vom Flüchtlingsschicksal. Doch die Erzählende fühlt sich von Erinnerungen eingeschlossen, jedes erneute Aufleben legt ihr Fesseln an. Wie geht man mit solchen Traumata um? Was bewirken die sich zusätzlich entladenden Konflikte, die durch das Zusammenleben in einer durchschnittlichen britischen Großstadt entstehen?
Während eines Gemeindefestes in der benachbarten Moschee folgt die Erzählende dem vertrauten Geruch der Speisen, fühlt sich jedoch vom gut gemeinten Auftreten des Imams unter Druck gesetzt. Wohin mit der Angst vor dem Unbekannten, den nicht kalkulierbaren Veränderungen? Während sich die Ereignisse um die Protagonistin herum zuspitzen, beginnt sie die Perspektive zu wechseln, lässt sich auf die Bücher ein, die ihr Buchhändler für sie aussucht und sieht ihre Wohnung durch ein anderes Fenster. Gespannt verfolgt man die Entwicklung der jungen Frau. Irgendwann beginnt sie, an ihrer Sprachlosigkeit zu zweifeln. Selbst nicht in die Geschehnisse einzugreifen, kennzeichnet einerseits die Unsicherheit über den eignen Stellenwert im neuen Land. Andererseits heißt es jedoch auch, nicht teilzunehmen. Zu dieser Erkenntnis kommt die Protagonistin auf ihrem langen Weg durch die unterschiedlichsten Begegnungen.
Wird sie ihre Stimme wiederfinden? Layla AlAmmar erzählt direkt und realistisch. Ihre kurzen, miniaturähnlichen Kapitel zeichnen auf vielfältige Art und Weise ein anschauliches Bild der Ich-Erzählerin. Dazu gehört ihre Vorstellung von Heimat, die für sie unmittelbar mit der Stimme verbunden ist. Sie möchte gehört werden. Nachdenklich und aufgerüttelt reflektiert man am Ende, inwieweit es einem im Alltag gelingt, Geflüchteten mehr als die ohnehin notwendige Achtung entgegenzubringen.
Layla AlAmmar: Das Schweigen in mir | Deutsch von Yasemin Dinçer
GOYA 2023 | 336 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen