Lavie Tidhar: Central StationNiemand war auf den Geruch nach Regen vorbereitet. Es war Frühling, Jasmindu mischte sich unter das Summen der elektrischen Busse, und am Himmel schwebten solarbetriebene Gleitsegler wie Vogelschwärme. Ameliah Ko versuchte sich an einem Kwasa-Kwasa-Remix von Susan Wongs Coverversion von »Do You Wanna Dance«.

Fast lautlos hatte der Regen eingesetzt; in silbernen Flächen verschluckte er das Knallen der Schüsse und durchnässte den brennenden Kinderwagen weiter hinten auf der Straße. Den alten Obdachlosen, der sich mit heruntergelassener grauer Hose zum Kacken neben die Mülltonne gekauert hatte, erwischte es mit einer Rolle Klopapier in der Hand, und er fluchte leise vor sich hin. Die Unbilden des Regens waren nichts Neues für ihn.

Die Stadt hatte einmal Tel Aviv geheißen.

Die Central Station ist ein gigantischer Weltraumbahnhof, der auf dem ehemaligen Stadtgebiet von Tel Aviv kilometerhoch in den Himmel ragt. Dort tummeln sich Datenvampire, Schrottsammler, Robotniks und künstlich erzeugte Wunderkinder. Andere Wesen sind nur digital anwesend, wie die Helden einer marsianischen Hardboiled-Serie, denn man lebt in dieser Zukunftswelt sowohl real wie auch virtuell. Die Menschen sind inzwischen durch Implantate untereinander vernetzt und damit permanent online. Sie empfanden die Gedanken anderer und geben gleichzeitig alles von sich preis.

An diesen Ort kommt Boris Aharon Chong nach langer Zeit auf dem Mars wieder zurück. Er trägt einen Aug an seinem Hals, ein parasitäres Marswesen, das seine Wahrnehmung verändert und ihm ein erweitertes Spektrum verschafft.

Autor Tidhar beschäftigt sich in seinem Buch mit zahlreichen Themen. Er behandelt unter anderem die philosophische Frage nach dem Menschsein, angesichts immer perfekterer Robotertechnologie. Er stellt gute Fragen zum Verhältnis zwischen Realität und Virtualität und überspitzt die technische Reizüberflutung, mit der wir heute schon konfrontiert sind. Aber in dieser Zukunft sind auch die Probleme unserer Gegenwart noch nicht bewältigt. Die Central Station steht zwischen der jüdischen und der arabischen Bevölkerung, deren Konflikte immer wieder aufflammen.

Das Buch firmiert zwar unter dem Etikett »Roman«, basiert jedoch auf einer Reihe von Kurzgeschichten, die nur den Handlungsort gemeinsam haben. Für die Buchfassung wurden sie überarbeitet, können aber den Kurzgeschichtencharakter der einzelnen Kapitel nicht leugnen.

»Central Station« ist ein Ideenroman, bei dem eine leicht nachvollziehbare Handlung oder ein spannender Plot eindeutig im Hintergrund stehen. Der Ort, die Central Station, ist faszinierend und bietet Potenzial für unzählige Geschichten, aber das Buch nutzt dies nicht zur reinen Unterhaltung, sondern schafft ein Kompendium der SF-Ideen, das die Themen vieler Genregrößen wie Philip K. Dick, Asimov und Bradbury aufgreift. »Central Station« ist kein leicht zu lesender Unterhaltungsroman, sondern eine Sammlung ungewöhnlicher und origineller Einfälle, aus denen man als Leser seine eigenen Abenteuer entwickeln könnte.

Von Lavie Tidhar erschien auf Deutsch bereits der preisgekrönte Roman »Osama«, über die Suche eines Detektivs nach Osama bin Laden in einer Parallelwelt. Außerdem der Steampunkroman »Bookman«, der viele SF-Motive aus dem frühen 20. Jahrhundert aufgreift.

Lavie Tidhar: Central Station | Deutsch von Friedrich Mader
Heyne 2018 | 352 Seiten | Jetzt bestellen