Laurent Binet: EroberungDer Winter war vergangen, es nahte der Sommer. Doch Freydis wagte Grönland nicht wieder zu betreten, denn sie fürchtete den Zorn ihres Bruders Leif, wenn er erführe, dass sie sich des Mordens schuldig gemacht hatte. Gleichzeitig spürte sie, dass man ihr seither misstraute und dass sie auch im Lager nicht mehr gern gesehen war. Sie rüstete das Schiff der beiden Brüder und ging mit ihrem Gemahl, ein paar Männern, Weidevieh und Pferden an Bord. Die in der kleinen Siedlung in Weinland zurückblieben, waren erleichtert, dass sie abreiste. Doch ehe sie in See stach, rief sie ihnen zu: »Ich, Freydis Eriksdottir, schwöre euch, ich werde wiederkommen.«

Sie nahmen Kurs nach Süden.

»Eroberung« ist eine Alternativweltgeschichte. Sie folgt den bekannten Stationen wie der Atlantiküberquerung der Wikinger und den Entdeckungsreisen des Kolumbus, doch nehmen diese historischen Ereignisse bei Binet einen anderen Verlauf. Die Details möchte ich nicht verraten, doch das mächtige Reich der Inkas zerfällt nicht, sondern wird zu einem – wie man heute sagen würde – Global Player.

Die Inkas besuchen die Herkunftsländer ihrer früheren Besucher. Im 16. Jahrhundert kommen sie nach Europa und landen zuerst in Portugal. Sie treffen auf Karl V. in Frankreich und besiegen die Anhänger der Inquisition in Spanien. In Deutschland erhalten sie Unterstützung durch die mächtigen Fugger, die ihnen helfen, ihr ganzes Gold gewinnbringend zu verteilen.

Nach »HHhH« und »Die siebte Sprachfunktion« wurde auch dieser Roman von Laurent Binet ein Bestseller. Als ich die Inhaltsangabe las, war ich vor allem gespannt, wie Binet seinen Roman aufgebaut hatte. Zu viele Alternativweltgeschichten schicken den Leser mitten hinein in eine fertige Welt, liefern nach und nach die Details zu diesem Geschichtsverlauf, während die Hauptfigur meist einen eher nebensächlichen Kriminalfall lösen muss. Die eigentliche Idee schafft bei diesen Büchern nur eine interessante, aber weitgehend ungenutzte Kulisse.

Binets Herangehensweise ist eine andere. Er erzählt die ganze Geschichte, beziehungsweise die wichtigsten Ereignisse, die zur hier beschriebenen Welt führen. Das ist nicht nur spannende Unterhaltung und fundierte Geschichtsstunde, sondern auch eine anregende Spekulation über die Weltgeschichte. Der Autor dreht nämlich nicht einfach die Verhältnisse um, sondern spekuliert darüber, wie sich Europa entwickelt hätte, wenn nicht Kapitalismus und Imperialismus regiert hätten und die Länder sich nicht in religiösen Streitigkeiten aufgerieben hätten. Wäre unter der Herrschaft des Inkahäuptlings Atahualpa eine andere Gesellschaft entstanden? Vielleicht sogar eine bessere?

Laurent Binet bedient sich für »Eroberung« gleich mehrerer Textformen. In weiten Teilen ist es ein spannender Abenteuerroman, aber es gibt auch zahlreiche Berichte und Briefwechsel, die fast schon einen satirischen Charakter haben. Faszinierend und teilweise auch sehr witzig sind die Beschreibungen der westlichen Welt aus Sicht der Inkas. Sei es die Religion des »angenagelten Gottes« oder die Sitten bei Hofe. Dass Binet dabei nie auf oberflächliche Komik aus ist, macht diese Passagen noch amüsanter. Und so erfahren wir von einer Pyramide, die mitten in Paris erbaut wird, Schafe werden zu heiligen Tieren und an den europäischen Königshäusern trägt man Federschmuck.

»Eroberung« ist eine faszinierende Zeitreise, die dem Leser einen neuen Blick auf die Welt erlaubt. Meisterhaft ersonnen von Laurent Binet und faszinierend vorgetragen von Stefan Kaminski.

Hörbuch:
Laurent Binet: Eroberung | Deutsch von Kristian Wachinger
Gelesen von Stefan Kaminski | Dauer: 10:51 Std.
Argon Verlag 2019 | Jetzt bestellen

Gebundene Ausgabe:
Laurent Binet: Eroberung | Deutsch von Kristian Wachinger
Rowohlt 2020 | 384 Seiten | Jetzt bestellen