»In der Liebe finden wir heraus, wer wir sein wollen; im Krieg finden wir heraus, wer wir sind«: Diese Bilanz zieht Vianne Mauriac, die Protagonistin von Kristin Hannahs Roman »The Nightingale«, am Ende ihres Lebens. An Krebs erkrankt, blickt sie als alte Frau auf ihre Vergangenheit zurück, in das Frankreich des Zweiten Weltkriegs.
Anlass dafür ist, dass sie ihrem Sohn nie die ganze Wahrheit darüber erzählt hat, was damals passiert ist. Ihr Sohn liebt sie, doch im Angesicht des Todes stellt sie fest, dass es etwas Wichtigeres geben könnte: »He loves a version of me that is incomplete. I always thought it was what I wanted: to be loved and admired. Now I think perhaps I’d like to be known.«
Im Mittelpunkt von »The Nightingale«, Hannahs erstem historischen Roman, stehen trotz der Kriegsthematik zwei Frauen. Vianne und ihre Schwester Isabelle haben ihre Mutter früh verloren. Ihr Vater ist vom Ersten Weltkrieg noch so traumatisiert, dass er sich nicht in der Lage sieht, sich um die Mädchen zu kümmern. Vianne heiratet jung und findet Halt in Ehemann und Tochter, während Isabelle rebelliert und aus sämtlichen Internaten herausgeworfen wird, in die ihr Vater und ihre Schwester sie abschieben.
Beide Frauen sind um die zwanzig, als der Zweite Weltkrieg ausbricht und die Nationalsozialisten Frankreich besetzen. Vianne versucht, möglichst wenig aufzufallen, um das Leben ihrer Tochter nicht zu gefährden. Als ein Offizier der Wehrmacht in Viannes Haus einquartiert wird und auch ihre Schwester Isabelle bei ihr einzieht, hat Vianne ein Problem – und Hannah den perfekten Konflikt: Denn im Gegensatz zu ihrer Schwester wünscht Isabelle sich nichts sehnlicher, als für ein freies Frankreich zu kämpfen, und wird Mitglied der Résistance.
Isabelles Charakter basiert auf einer realen Figur, der belgischen Widerstandskämpferin Andrée de Jongh, die als 19-Jährige alliierten Soldaten half, aus dem besetzten Belgien zu entkommen. Mit »The Nightingale« wollte Hannah auch der Rolle, die Frauen im Zweiten Weltkrieg gespielt haben, mehr Gehör verschaffen, da ihre Geschichten oft gegenüber männlichen Protagonisten in den Hintergrund geraten. Das ist ihr auf jeden Fall gelungen: »The Nightingale« wurde in mehreren Ländern ein Bestseller und wird zur Zeit verfilmt.
Die Story ist fesselnd erzählt und beinhaltet alles, was ein gutes Drama ausmacht: ein ungelöstes Geheimnis aus der Vergangenheit, das Vianne ihrem Sohn dann doch lieber nicht erzählt, Familienkonflikte aller Konstellationen (Schwester-Schwester, Mutter-Tochter, Vater-Tochter, Mutter-Sohn), Entscheidungen auf Leben und Tod und natürlich eine Liebe-mit-Hindernissen-Geschichte. In einem Interview hat Hannah verraten, dass eine der Fragen, die am Anfang der Entstehung von »The Nightingale« standen, war, ob sie das Leben ihrer Kinder riskieren würde, um das eines Fremden zu retten. Der Roman wirft zahlreiche existenzielle Fragen dieser Art auf. Vianne gelangt im Lauf des Krieges zu der Einsicht, dass es wichtiger sein könnte, die Seele ihrer Tochter zu retten anstatt ihr physisches Überleben zu sichern – also sich im Widerstand zu engagieren, auch wenn sie damit den Tod ihrer Familie riskiert.
Um die Spannung nicht zu ruinieren, möchte ich an dieser Stelle nicht viel vom Inhalt verraten. Ich kann das Buch durchaus empfehlen, auch wenn die Figuren und Konflikte manchmal zu sehr am Reißbrett entworfen scheinen, zu sauber, mit zu wenigen Ecken und Kanten und etwas zu schwarz und weiß. Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass die Autorin sich im letzten Augenblick nicht getraut hat, dem Leser ein Happy End zu verweigern, und als Kompromiss eine Art halbes Happy End bietet. So deutet sie zum Beispiel nur an, dass Vianne und ihr Mann zwar beide den Krieg überlebt haben, aber zu sehr verändert sein könnten, um ihre Ehe so glücklich wie zuvor weiterzuführen. Auch Isabelle wird nach dem Krieg mit ihrer großen Liebe vereint, aber doch nicht richtig. Die diversen Schuldgefühle, die Vianne am Anfang des Romans aus gutem Grund plagen, fallen am Ende etwas unter den Tisch. Kurz gesagt: Etwas weniger Sentimentalität hätte dem Buch vielleicht gutgetan.
Trotzdem ein gelungener, überaus lesenswerter historischer Roman. Auf deutsch ist er im September 2016 im Verlag Rütten und Loening erschienen, übersetzt von Karolina Fell.
Kristin Hannah: The Nightingale | Englisch
St. Martin’s Press 2015 | 608 Seiten | Jetzt bestellen