Krachkultur: Ausgabe Nr. 15Ich schlafe mit einem Glas Wasser auf dem Nachttisch, um an dessen Pegel erkennen zu können, ob die kalifornische Erde bebt oder ob es immer noch ich bin, die zittert.

Auf der Suche nach Sätzen, die besonders schön und auch beispielhaft für den Tonfall sind, der in der »Krachkultur« angeschlagen wird, werde ich schnell fündig. Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, welchen ich zuerst zitieren soll. Dieser hier stammt von Amy Hempel, die laut Herausgeber Martin Brinkmann, zu den Vertreterinnen einer »kleine(n) literarische(n) Subkultur« in den USA steht, »deren Texte eine neue Härte auszeichnet, radikale Schonungslosigkeit in der Darstellung mehr oder weniger hoffnungsloser Existenzen.«

Um Sex geht es viel in diesen Storys, und ums Scheitern und ums Sterben. Und um das Leben. Eine angenehm deprimierende Lektüre also. Und eine wichtige Publikation, denn die schöne Literatur soll weder immer schön sein, noch soll sie immer nur über schöne Dinge beschreiben. Ganz im Gegenteil: Es gibt Grund genug, auch das Abgründige, Schlechte und Hässliche literarisch zu verarbeiten. Hubert Selby hat 1964 mit seinem Episodenroman »Last Exit Brooklyn« den Maßstab hierfür gesetzt

Manchmal schimmert durch die Geschichten und Gedichte in der Krachkultur auch ein gewisser schwarzer Humor durch, sarkastisch und zynisch. Fast kann man hören, wie die Autoren und Autorinnen bei der Niederschrift der Storys traurig gelacht haben. Bret Easton Ellis hätte vielleicht seine boshafte Freude an den Geschichten. »Erzähl mir etwas, das ich gleich wieder vergessen kann«, fordert eine todkranke Frau in Hempels Story »Auf demselben Friedhof wie Al Jonson« von ihrer Freundin, die sie am Kranken- bzw. Sterbebett besucht. »Ich will nur unnützes Zeug hören.«

Die »Krachkultur« zeigt mit dieser, der 15. Ausgabe, wieder einmal, wofür Literaturzeitschriften wirklich gut sind. Im besten Falle picken sie nämlich die Rosinen aus der gigantischen Masse geschriebener Texte heraus, um sie echten Kennern zu kredenzen. Werfen wir doch mal einen Blick auf Mary Millers Kurzgeschichte »Cedars of Lebanon«, in der Sätze wie diese stehen (und die man sonst viel zu selten zu lesen bekommt):

Ihre Flip Flops knirschten auf dem Kies. Sie schaute in die Autos und Trucks, das Pärchen, das Campingstühle mitgebracht hatte, saß draußen. Diese Leute mussten sich nicht betrinken oder high werden, dieser Mann würde nicht früher oder später den Reißverschluss seiner Hose öffnen und den Kopf seiner Frau in seinen Schoß pressen, und so lange dort festhalten, bis er fertig war.

Der Mann erwiderte ihren Blick und biss in sein Hot Dog. Sie schaute wieder weg und spürte, dass die Frau ihr nachsah.

Oder »Arizona« von Elizabeth Ellen:

Solche Sachen erzählt Mama mir, wenn Mike nicht zuhause ist oder auf dem Klo oder wenn er bewusstlos auf der Couch liegt. Letzte Woche hat sie mir erzählt, dass sie einmal aus Versehen furzen musste, während er sie gerade geleckt hat. Wir saßen beim Chinesen und sprachen während des Essens über unsere peinlichsten Erlebnisse und das war ihrs. Meins war, dass sich ein Junge von mir getrennt hat, weil ich ihn nicht küssen wollte.

Man würde sich wünschen, dass auch deutschsprachige Autorinnen und Autoren in der Lage sind (und sich auch trauen), so zu schreiben. Aber Moment! Die gibt es ja auch – und auch sie sind in der Krachkultur vertreten, z.B. Torsten Wohlleben, dessen Story »Glatt« hinter die Fassade der Botox-Welt blickt:

Sie tritt direkt vor den Spiegel, sie sieht es. Sieht es nicht. Aber sie spürt es. Bildet sich einen Moment lang ein, sie würde etwas sehen, dass der feine Riss, der Graben nicht mehr da sei, auf ihrer Stirn. (…) Plötzlich ergreift heftige Traurigkeit von ihr Besitz, für einen Moment nur. Ein Moment, den sie entschlossen fort lächelt.

Mit Buchmagazinen wie diesen sind bekanntlich keine Reichtümer zu scheffeln. Das weiß ich selbst aus eigener Erfahrung. Aber sie lohnen sich trotzdem. Und wer die »Krachkultur« liest, kann später sagen: Ich habe Elizabeth Ellen, Mary Miller, Amy Hempel und Torsten Wohlleben schon gelesen, als sie noch (fast) niemand kannte.

Martin Brinkmann (Hrsg.): Krachkultur, Ausgabe Nr. 15 | Deutsch
Krachkultur 2013 | 160 Seiten | Nur noch antiquarisch erhältlich