Ich lasse mich langsam an der Wand runterrutschen, denn genau das ist mein Zustand: Ein Zeitlupensturz in das Nichts, die Verdammnis, in der es keinen Heiligen Abend gibt, in der der Weihnachtsmann ein Russland-Heimkehrer und der Christbaum Brennholz ist.
Das Buch »Rohrkrepierer« erzählt auf außergewöhnliche Weise von einer außergewöhnlichen Kindheit und Jugend. Für das Außergewöhnliche und die Dramatik sorgen vor allem der Schauplatz und der Zeitrahmen. Autor Konrad Lorenz (Jahrgang 1942) ist im St. Pauli der Nachkriegszeit aufgewachsen, in den weniger im Rampenlicht stehenden Jahren zwischen Hans Albers und den Beatles, zwischen Große Freiheit Nr. 7 und dem Star-Club.
Es fehlt an Vätern, gänzlich oder zumindest an körperlich und seelisch unversehrten. Die Mütter halten sich und den Rest der Familie mit Kohlenklau und illegalem Tauschhandel über Wasser, und die Kinder spielen in den Ruinen, die der Bombenkrieg zurückgelassen hat. So auch Kalle, von seiner Kindheit und Jugend erzählt das Buch, von seiner Familie, seinen Freunden, seiner ersten Liebe und seinen Erlebnissen in einer Welt von Säufern, Prostituierten, Zuhältern, Seeleuten und durchreisenden Künstlern.
Kalle lebt mit seiner Mutter und Großmutter zusammen. Seinen Vater lernt er erst nach dessen Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft näher kennen. Aber auch nur kurz, weil Vater Ludwig gleich wieder zur See fährt, um seinen Teil zum Überleben der Familie beizutragen und wohl auch, um den zerrütteten Verhältnissen daheim und anderen sozialen Folgeerscheinungen des Krieges zu entfliehen.
Das einleitende Zitat und die bisherige Buchbeschreibung mögen den Eindruck erwecken, dass es ein brutales, herzloses Umfeld ist, in dem Kalle sich bewegt. Tatsächlich gibt es in Lorenz‘ Erinnerungen Figuren, denen man nicht einmal tot begegnen möchte, wie zum Beispiel Murksi, der Ratten fängt, sie mit einem Ofenrohr zu Tode quält und sich später seines cholerischen Vaters auf ähnliche Weise entledigt.
Andererseits fehlt es dem Buch nicht an maritimer Romantik und liebenswerten Persönlichkeiten, wie beispielsweise Kalles Vater, seine Großmutter Bertha oder echte Originale wie Tante Hermine, die Wirtin von Kalles Stammkneipe »Zur Kuhwerder Fähre« in der berühmt-berüchtigten Hafenstraße. Sie starb Anfang der Siebziger. Noch 37 Jahre später erinnerten sich ein paar alte Fahrensleute an sie und verewigten ihren Namen auf einer Gedenktafel.
Tante Hermine geht ein paar Monate in Schwarz. Sie ähnelt einem sizilianischen Klageweib, aber sie klagt nicht. Wir haben Grund zur Klage, denn ihre Abrechnungen werden immer undurchschaubarer. Sonst ändert sich kaum etwas, bis auf die Begrüßungsformel, die sich nun umkehrt. Wir sind es, die fragen: »Wo geiht, Tante Hermine?«
Und sie antwortet: »Mut jo.« Dabei bleibt es. Ihr Ehrgeiz, über alles und jeden an der Küste Bescheid zu wissen, eingebettet in ihr ›chinesisches Lächeln‹, liegt auf Eis.
Nicht ganz so anrührend, dafür umso unterhaltsamer ist Kalles Begegnung mit dem Catcher Lupus Schneider alias »Der Würger«, der eines Tages in Hamburg gastiert und dem Kalle trickreich, aber erfolglos ein Autogramm abzuluchsen versucht. Kalle wird ihn in späteren Jahren wiedersehen, im Fernsehen, in zweitklassigen Gangsterfilmen, in denen die Visage eines »Gorillas« gefragt ist.
So sind es schließlich nicht nur Ort und Zeit, weshalb die Lektüre dieses Buches zu empfehlen ist, sondern auch die zahlreichen, mitunter recht kuriosen Charaktere, die darin vorkommen, und die Art und Weise wie Lorenz sie beschreibt: authentisch, einfühlsam und oft mit einem wunderbar feinen ironischen Unterton.
Ich habe mir genau überlegt, was ich zu dem Würger sagen würde, aber nun steht da eine Frau in einem viel zu großen Morgenmantel mit japanischen Motiven. Ihre superoxyd-blonde Dauerwelle hat die Dauer aufgegeben, sie pustet sich die Korkenzieherlocken aus dem Gesicht: »Was willst du denn?«
Ich sehe es ihr an: Sie friert und hat schlechte Laune. »Ich – ich hab ein Geschenk für’n Würger.«
Spannend bleibt es bis zum Schluss, wenn Konrad Lorenz nach und nach auflöst, was aus vielen seiner Weggefährten geworden ist und er erzählt, wie ihm ein prominenter deutscher Unterhaltungskünstler seine Freundin Anna ausspannt. Wer das ist, soll an dieser Stelle nicht verraten werden.
Konrad Lorenz: Rohrkrepierer | Deutsch
Edition Temmen 2010 | 384 Seiten | Jetzt bestellen
»Rohrkrepierer« als Graphic Novel
Edit 16.09.2015: Die autobiographischen Aufzeichnungen von Konrad Lorenz sind inzwischen auch als Graphic Novel erhältlich. Sie erschien am 25. August 2015 im Carlsen Verlag. In Bildern umgesetzt wurden die Geschichten um Kalle von der 1967 in Hamburg geborenen Illustratorin Isabel Kreitz, die bereits mehrfach für ihre Arbeiten ausgezeichnet wurde. U.a. mit dem Deutschen Comic-Preis des Comicfestivals Hamburg, dem Sondermann-Preis der Frankfurter Buchmesse und zuletzt 2012 als »Beste deutsche Zeichnerin« mit dem Max und Moritz-Preis des Comic-Salons Erlangen.
Isabel Kreitz: Rohrkrepierer | Deutsch
Carlsen Verlag 2015 | 304 Seiten | Jetzt bestellen
In den nächsten Tagen stellt Konrad Lorenz sein Buch in Hamburg vor:
Am Donnerstag, den 24. Februar im St. Pauli Museum, Davidstr. 17
Beginn: 19:00 Uhr, Eintritt: 5,00 € (inkl. Ausstellungsbesuch)
Am Freitag, den 25. Februar in der Makrele, Talstr. 29
Beginn: 21:00 Uhr, Eintritt frei
Am Montag, den 28. März im Literaturhaus, Schwanenwik 38
Beginn: 20:00 Uhr, Eintritt: 7,00 €/erm. 4,00 €
Eine weitere, sehr ausführliche und lesenswerte Besprechung des Buches auf culturmag.de: http://culturmag.de/rubriken/buecher/konrad-lorenz-rohrkrepierer/
Wir haben von 1962 bis 1972 regelmäßig bei Tante Hermine unsere Freunde getroffen. Raimar hat hinterm Tresen Bier gezapft und nachts 2.oo Uhr Tante Hermine – die gehbehindert war in ihre obere Wohnung gebracht, mit Kasse reingeführt und dann abgeschlossen, Schlüssel durch den Briefkasten in die Wohnung geworfen. So ein Original, wie diese Frau, gibt es nicht mehr. Die Seeleute gaben bei ihr große Teile ihrer Heuer und den Seemanns-Ausweis ab, damit es nicht verloren ging auf dem Kiez. Hermine kanne alle mit Namen – nd auch nach Jahren der Abwesenheit, wußte sie wer wer war. Wer ihr nicht gut vor kam, den schickte sie sofort raus“Du gehörst hier nicht her“…. usw.
Newin, ich habe noch nie einen Kommentar abgegeben und die Geschichte heute zum 1. Mal erzählt. Habe erst seit kurzem einen Computer, war lange im Ausland. Also, wer kann meine Eindrücke erzählt haben ????
wir, die in diesen Jahren St.Pauli erlebt haben und „studieren konnten“ wie Konrad,
fühlen wie er, was es bedeutet, an der Klitoris der Welt gelebt zu haben und trotzdem mit vollen Hosen durch den Puff laufen zu müssen. Habe mich köstlich gealtert in dem Buch gefunden und natürlich meine ganze Familie, weil sehr nah an Konrad.
Einfach köstlich und in unserer Sprache.
Danke, Wilfried
Ahoi & Moin-Moin, weil’s so schön und spannend ist, dem Herrn Lorenz bei Erzählungen aus seiner Jugend zu lauschen, wird er am 25.5 hörbar & sichtbar in der „sichtbar“ am Fischmarkt in Hamburg sein und aus seinem Buch lesen.
BUENO, BIN JAHRGANG 1941 UND WOHNTE DIREKT AM PAULSPLATZ UM DIE ECKE IN DER TROMMELSTR …. KANN VIELE DER BEGEBENHEITEN VOM KALLE NACHVOLLZIEHEN, ABER ES FEHLEN AUCH VIELE DETAILS
AUS DIESER ZEIT UND VOM KONRAD LORENZ GAR NICHT ERWAEHNT !!!
NEBENBEI : ICH HABE EIN AUTOGRAMM VOM ‚WUERGER‘ AUF SEINEM FOTO UND OBGLEICH DAMALS ERST 12 JAHRE BEKAMEN WIR EINLASS INS CATCHER-ZELT ! ZUDEM HABE ICH EINEN LAENGEREN REPORT UEBER DEN TEMMEN-VERLAG AN KONRAD LORENZ GESANDT : MAL SEHEN OB ER ANTWORTET (?) SALUDOS AUS HONDURAS VOM BUTTJE
(>WALTER KNUTH, EX-TROMMELSTR + HEIDRITTERSTR > DAZWISCHEN LAG DER PAULSPLATZ WO KALLE WOHNTE<
Es sind interessante Kommentare, die sich hier – auch noch Wochen nach der Buchvorstellung – ansammeln. Vielen Dank!
Weitere Pressestimmen zum Buch:
»Rohrkrepierer, eine Erinnerung an eine Kindheit und Jugend auf St Pauli, in der das Leben pulsiert, in der uns ein heute so ferner Alltag tatsächlich greifbar wird. Und die Momente fast unerträglicher Spannung birgt.«
(Hamburger Abendblatt)
»Der Hamburger Autor hat mit seinem autobiografischen Roman ein unsentimentales, von ur-norddeutschem Humor durchzogenes Buch geschrieben.«
(Die Welt)
»lustig und anrührend!«
(NDR Hamburg Journal)
»Dieser authentische Roman ist ihm zu einer farbigen, atmosphärisch dichten und fesselnden Geschichte geraten. Sie lässt das harte Leben nach Kriegsende sowie das sich bald neu entwickelnde ›Milieu‹ mit unendlich vielen schrägen Figuren lebendig werden.«
(Weser-Kurier)
»Lorenz tappt nicht in die Falle der Vergangenheitsbewältigung, die so gerne zuschnappt, sondern er hält fest, wie es für ihn war, mit wachsender Verve, je tiefer er sich in sein Leben hineinschreibt.«
(Welt am Sonntag)
»Als gebürtiger St. Paulianer verwundert es nicht, dass der Autor ein so scharfes Bild des St. Pauli der Nachkriegszeit zeichnen kann.«
(Hamburg-Web)
»Einzigartig ist nicht, was Lorenz erlebt hat, einzigartig ist aber, was er daraus geschaffen hat: eine schöne, flüssige, thematisch und spannungstechnisch pointierte Erzählung, die von jenem trockenen Humor durchsetzt ist, den der Hamburger vollendet beherrscht.«
(Culturmag)