Kent Haruf: Ein Sohn der StadtJemanden wie Jack Burdette gibt es wahrscheinlich in jeder kleineren Stadt. Der Platzhirsch, den jeder kennt, über den jeder etwas sagen kann, der aber deshalb nicht auch zwangsläufig ein Sympathieträger sein muss, jemand, der seine Grenzen austestet und gerne überschreitet, einfach weil er es kann.

Acht lange Jahre sind vergangen, seit er zusammen mit seinem naiven Kumpel Charlie Soames die Farmer-Kooperative um einen ordentlichen Batzen Geld erleichtert und sich allein mit seiner Beute aus dem Staub gemacht hat. Soames zumindest hat dafür auf sehr bittere Art und Weise büßen müssen. Viele Einwohner Holts mussten ihre Einlagen abschreiben und blieben allein mit ihrer ohnmächtigen Wut, für die sie ein Ventil benötigten, welches sie schließlich aus Mangel an Alternativen in seiner – so bezaubernden wie völlig unschuldigen – Ehefrau Jessie fanden.

Nun ist Jack also wieder in der Stadt, hält in seiner protzigen roten Corvette Hof und treibt den Einwohnern Holts die Zornesröte ins Gesicht. Warum ist der ehemalige Schulstörer und -verweigerer, der ehemals leuchtende Stern der lokalen Footballmannschaft, zurückgekommen, ungeachtet der nach wie vor ausstehenden Schuld? Die Einwohner Holts wetzen jedenfalls schon die Messer…

»Ein Sohn der Stadt« ist das Psychogramm eines Unangepassten und der Unfähigkeit seiner Umgebung, entsprechend mit ihm umzugehen. Wie kann es sein, dass sich ein Städtchen wie Holt von einem wenig gebildeten Muskelpaket so dermaßen gängeln lässt? Frauen zum Beispiel sind für ihn nur Mittel zum Zweck. Immer gut, wenn man jemanden hat, der sich um die Wäsche kümmert, so könnte seine Devise lauten. Jack rechtfertigt sein Handeln nie, solche Gedanken sind ihm völlig fremd. Er ist schließlich Jack Burdette, welche weitere Erklärung gäbe es da noch abzugeben? Reicht es also aus, ein ehemals passabler Footballspieler zu sein, dass seine Umgebung ihm alles durchgehen lässt? Nun, zumindest fast, denn sein »Coup«, einen Teil seiner Mitbürger um 15.0000 Dollar zu erleichtern, überspannt dann doch den Bogen gewaltig, und nicht nur bei Pat Arbuckle, dem Leiter der heimischen Zeitung, der einen ganz besonderen Grund zur Besorgnis hat, steigt der Blutdruck, als der verlorene Sohn in die Heimat zurückkehrt.

Jack Burdette ist für mich Kent Harufs unsympathischste Schöpfung. Für seine bisherigen Protagonisten konnte man bisher immer Verständnis aufbringen, selbst bei eventuellem Fehlverhalten, weil man immer nachvollziehen konnte, was der Grund für ihre Handlungen war. Der holtsche »Held« in »Ein Sohn der Stadt« ist vollkommen empathielos und jemand, auf den man im wahren Leben gut verzichten könnte. Ungeachtet dessen besticht der Roman – wie alle Werke Kent Harufs – durch seine feine Figurenzeichnung und eine spannende Geschichte, die bis zum Schluss fesselt.

»Where you once belonged«, so der Originaltitel, erschien im Jahr 1990 und war Kent Harufs zweite Veröffentlichung.

Kent Haruf: Ein Sohn der Stadt | Deutsch von pociao
Diogenes 2021 | 288 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen