Wie stellt sich ein Mensch aus dem Westen das Leben in der DDR vor? Die Leipziger Autorin Kathrin Aehnlich ahnt es und lässt einen TV-Redakteur aus dem Westen eine Frau aus dem Osten nach Beispielen für ein Leben im Unrechtssaat suchen, die sich irgendwo im Grau zwischen Unterdrückung und Überwachung vor dem Staatsapparat duckten. Allein, sie wird nicht fündig. Herzenswarm, empathisch und informativ schildert und entlarvt Aehnlich in »Wie Frau Krause die DDR erfand« das, was auf allen Seiten an Trugbildern weitergetragen wird.
Eigentlich ist Frau Krause, Sprössling einer Tänzerfamilie, Schauspielerin und auf der Suche nach einem Engagement, das sie zwar nicht bekommt, aber dafür eben den genannten Rechercheauftrag. Um den zu erfüllen, reist sie – teilweise in Begleitung eines Theaterfreundes, von dem sie gar nicht wusste, dass er nicht aus dem Osten, sondern aus Braunschweig kommt – in das Industriestädtchen, in dem sie geboren wurde, spürt ihrer eigenen Geschichte genau so wie der Gegenwart der Dortgebliebenen nach und wird fortwährend sowohl bestätigt als auch ernüchtert. Ihren westdeutschen Auftraggeber, Herrn Fuchs, und sein TV-Team ereilt die Ernüchterung ebenso, denn die wollen alle die altvertraute dunkelgraue Katastrophe, nicht den zufriedenen Wohlklang.
Unvorstellbar, dass man es sich in der DDR überhaupt hat gutgehen lassen können, nicht? Die müssen doch alle unterdrückt gewesen sein, unter Restriktionen und Reglementierungen gelitten haben, sie waren schließlich eingesperrt gewesen und müssen dies auch permanent so empfunden haben. Aber Pustekuchen, es ging den meisten der 16 Millionen Bürger seelisch ganz passabel und sie hatten Wege gefunden, dafür zu sorgen, dass dies überhaupt so sein konnte. Was nichts daran änderte, dass sie in einem Unrechtsstaat lebten und ihnen dies auch bewusst war, aber die menschliche Psyche ist schließlich darauf ausgelegt, Schlimmes auszublenden und fürs seelische Wohlergehen zu sorgen. Das galt auch in der DDR. Das sollte TV-Redakteur Fuchs nun lernen, doch er hält an seinen Vorstellungen fest – die nun wiederum Frau Krause spiegelt, denn sie gleicht diese mit ihrer Vorstellung davon ab, wie es im Westen gewesen sein musste und wie Wessis heute ticken, und kommt, anders als Herr Fuchs, der sie dennoch zu überraschen weiß, zu schlüssigen Folgerungen.
Man könnte dieses Buch beinahe als Reportage auffassen, als von Aehnlich selbstgewählten Auftrag, die eigenen Erinnerungen festzuhalten, sie mit denen seiner früheren Nachbarn abzugleichen und die Erkenntnisse einerseits mit seinen früheren DDR-Mitbewohnenden zu teilen und andererseits den Westbürgern plausibel zu machen. »Wie Frau Krause die DDR erfand« ist ein Lehrstück, eine Recherchearbeit, ein Wikipediaeintrag, eine Liebeserklärung, eine Selbstermächtigung. Sie ist keine verblendete Ostalgie, keine Verklärung, auch keine Verurteilung, sondern um eine realistische, ausgewogene Darstellung des Alltagslebens bestrebt.
Man lernt eine Menge in diesem Buch, auch Fakten, etwa über den Designer der Weltuhr und die Paradoxie der Existenz einer solchen in Berlin, Hauptstadt der DDR, oder auch über Ketwurst und Mitropa, über Dederon und Fotografien, also eben greifbare Elemente eines Alltags in der DDR, wie man sie in den Händen hielt, ganz so, wie auch die zugesandten Westprodukte, in deren Austausch man im Westen Ostprodukte erhielt, deren Zusendung diametral anders motiviert war. Es geht Aehnlich bei ihrer Aufschlüsselung aber nicht um Abrechnung, sondern um Annäherung, und das mit großem Herzen, breit gefächertem Tiefgang und angemessenem Witz.
Die Freude an diesem Buch hat indes einige leichte Einkerbungen. Zu Beginn dreht sich Frau Krause sehr um sich selbst, es erweckt dein Eindruck, man begleite vielmehr die Autorin dabei, eine große Aufräumaktion vorzubereiten. Aehnlich versteift sich anfangs in den Personen und Biografien, die an mancher Stelle etwas konstruiert wirken, aber im Verlaufe nicht nur plausibel werden, sondern sogar ausnehmend liebenswert. Schwierigkeiten bekommt man an anderen Stellen mit den Zeitebenen, wenn unklar ist, ob Aehnlich aus Bequemlichkeit zum Präteritum statt zum Plusquamperfekt greift, ob also eine geschilderte Begebenheit eine Erinnerung aus der DDR ist oder ob sie in der erzählten Vergangenheit stattfindet. Zuletzt wirken manche Dialoge etwas unplausibel sprunghaft, wenn eine Figur etwas für den Lesenden Unverdächtiges sagt und die andere darauf in einer Art reagiert, die dann unschlüssig bleibt. Zumindest möglicherweise lediglich für den nichteingeweihten Westlesenden, vielleicht geht es früheren DDR-Bürgern ja anders und Aehnlich spielt da auf ostdeutsche Selbstverständlichkeiten an. Sei’s drum, man liest drüber hinweg.
Wer als Westgucker »Sonnenallee« kennt, hatte seinerzeit bereits einen solchen Aha-Effekt, wie ihn der Herr Fuchs hier nicht haben möchte: Auch in einem Unterdrücker-Regime konnte man »Pop und Rock« auf seinem T-Shirt stehen und ein knallbuntes Dasein haben. Vergleichbar verbrachten die Protagonisten in Frau Krauses Umfeld auch ihre Leben, arrangierten sich, pickten sich Rosinen heraus, gestalteten, verreisten, lebten. Wer hätte das gedacht, wie, Herr Fuchs? Den spielt Aehnlich aber nicht gegen die DDR aus, für den vergeblich auf Schadenfreude und Fremdscham lauernden Lesenden hat sie ein ganz anderes As im Ärmel, das den Fuchs in einem unerwarteten Licht stehen lässt. Auch für Frau Krause. Wie man sich doch täuschen kann!
PS: Spoiler: Frau Krause hat die DDR ja gar nicht erfunden! Dieses Buch ist abermals eine Empfehlung von Onkel Rosebud.
Kathrin Aehnlich: Wie Frau Krause die DDR erfand | Deutsch
Verlag Antje Kunstmann 2019 | 176 Seiten | Jetzt bestellen