»Vielleicht bist du jemand, der oder die sagt: Krieg – das ist sehr schlimm! Warum fragst du nicht: Wer hat ihn gemacht? Die Menschen führen Krieg. Wer sagt, dass die Muslime schlecht sind? Wer sagt, dass die Christen schlecht sind? Das sagt nicht Gott. Das sagen nicht die Tiere. Das sagt nicht die Natur. Das sagen nur wir Menschen.« Hazara in seiner Geschichte »Wolf werden. Eine afghanische Lebensgeschichte«, aufgeschrieben von Katharina Morello
Manche Biografien sind so bedeutsam, dass sie erzählt werden müssen. Neben den Grundpfeilern unseres sozialen Zusammenlebens finden wir darin einen reichen Schatz an sozial-psychologischen Facetten. In ihrem Buch »Wolf werden. Eine afghanische Lebensgeschichte«, in diesem Jahr erschienen beim Schweizer Limmat Verlag, hat Katharina Morello einen solchen bemerkenswerten Lebenslauf aufgeschrieben. Ihrem Helden, der sich in den Aufzeichnungen Hazara nennt, ist sie durch ihr Engagement in der Autonomen Schule Zürich begegnet.
Aus seinem bisherigen Leben erzählt der junge Mann zunächst nur das Lustige und Vergnügliche. Erst auf das behutsame Bitten der Autorin schließt er nach und nach die fehlenden Lücken mit den dunklen, bedrückenden Seiten. Puzzlestück für Puzzlestück setzt sich so seine Geschichte zusammen. Was für Hazara zu einem Aufarbeitungsprozess seiner Vergangenheit gerät, stellt unsere Gedanken- und Verhaltensmuster auf den Kopf, ändert Blickrichtungen und zwingt zum Neudenken.
Hazara flüchtet Anfang der Zweitausender Jahre als Kind mit seiner Familie aus Afghanistan in ein (nicht genanntes) Nachbarland. Als sechsjähriger Blumenverkäufer wird er dort zum Allein-Ernährer seiner Familie. Schüler ist er nur in der verbleibenden freien Zeit. Als Außenseiter gehört er nirgends ganz dazu. Mit seiner Beharrlichkeit will sich Hazara ohne fremde Hilfe in die Mitte der Gesellschaft kämpfen. Ein steiniger Weg, der mit Tritten, Schlägen und Verletzungen ausgerechnet von dort gepflastert ist.
Das Ausmaß der unsichtbaren, inneren Wunden scheint unfassbar. Man erlebt Hazaras Werdegang als Auf und Ab zwischen furchtbaren Erlebnissen und Glücksmomenten. Erklärt sich daraus sein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn? Zweifelnd vernimmt er immer wieder die Lebensweisheiten seiner Mutter, wie: »Wenn du einen Rassisten hasst, bist du selbst einer…« Nach und nach lernt der Protagonist des Buches aus ihren Erfahrungen. Sei es beim Beschützten des kleinen Bruders vor rassistisch handelnden Lehrern oder wenn er etwas Unrechtes getan hat. Kommt Hazara vom rechten Weg der Moral ab, steht ihm immer wieder seine Mutter zur Seite. Was für eine kluge Frau! Gewissensbisse quälen Hazara so lange, bis er seine Fehltritte aufgeklärt hat. Die Gründe für den Autodiebstahl bei einem in der Nachbarschaft lebenden Doktor kann man jedoch ebenso gut nachvollziehen, wie das Ausnutzen einer gesellschaftlich privilegiert wirkenden Position.
Meine allergrößte Hochachtung gilt Hazara, weil er niemandem grollt und selbst in der ausweglosesten Situation das Positive für sich entdeckt. Dass er sich mit einem Polizisten anlegt, der das Krankenbett seiner angebeteten Leyla bewacht, bringt ihm zahlreiche Verletzungen ein. Für die letzten Tage, die er so in der Klinik an ihrer Seite verbringen kann, ist er sehr dankbar. Die Frage nach dem Kern unserer Existenz – nach den Werten, die uns wirklich wichtig sind, treibt mich immer noch um. Was nützen Besitz, Geld und Prestige, wenn man am Ende seine große Liebe verliert?
Später nimmt Hazara an einem Schießwettbewerb teil, bei dem es ein Auto zu gewinnen gibt. Er gewinnt, doch er bekommt den Preis nicht, weil dies nur Einheimischen vorbehalten ist. Als sich das Militär bei ihm meldet, muss er eine folgenschwere Entscheidung treffen. Bleiben, offizielle Papiere bekommen und in den Krieg ziehen? Eine solche Entscheidung zu treffen, ist für uns unvorstellbar. Unweigerlich sehe ich die Migrant:innen-Gesichter vor mir, die mir täglich in meinem Kiez begegnen. Vor welchen Herausforderungen standen sie bereits?
Hazara ist für mich einer von ihnen, der einen Namen hat und dessen Geschichte mich berührt. Sie führt einem die Endlichkeit vor Augen und lässt eigene Erfahrungen und Glücksmomente in ganz neuem Licht erscheinen.
Katharina Morellos Büchlein hält uns ohne zu verurteilen einen Spiegel vor, in dem die vorherrschenden Klischees über Migrant:innen Risse bekommen. Anhand eines persönlichen Schicksals gelingt es ihr, die Chancen der Migration mit all ihren menschlichen Idealen hervorzuheben. Hazaras Abenteuer wirken lange nach und erhalten eine unbedingte Leseempfehlung.
Katharina Morello: Wolf werden. Eine afghanische Lebensgeschichte | Deutsch
Limmat Verlag 2022 | 208 Seiten | Jetzt bestellen