Im Jahr 1976 interviewte die Redakteurin und Filmkritikerin der DDR-Wochenzeitung »Sonntag«, Jutta Voigt, die Sängerin Sanije Torka. Das unveröffentlichte Gespräch stellte sie dem Filmregisseur Wolfgang Kohlhaase zur Verfügung. Er nutzte es als Grundlage für das Drehbuch zu seinem Film »Solo Sunny«. Die Künstlerin Sanije Torka wird im Film nicht genannt, der Name Jutta Voigt erscheint im Vorspannt als Beraterin.
In ihrem aktuellen Buch »Wilde Mutter, ferner Vater«, 2022 erschienen im Aufbau Verlag, lässt Jutta Voigt (inzwischen 81 Jahre alt) ihr Leben wie einen Film an sich vorüberziehen. Statt einer Autobiografie entdeckt man einen Lebensroman, der es in sich hat. Er spiegelt eine leidenschaftliche Frau, deren Lebenslust und -begeisterung aus jeder Zeile dringt. Die Protagonistin im Roman heißt Judy. Während sie sich an die Geschichten ihrer Familie erinnert, die acht Jahrzehnte umfassen, reflektiert sie Vergangenheit und Gegenwart.
»Spionage in eigener Sache«, nennt sie es und schlägt beim Aufspüren profaner Alltagserlebnisse eher leise Töne an. Wie weit ist der Spruch »Bleib‘ übrig!« (Grußformel am Ende des Zweiten Weltkrieges auf dem Weg in den Luftschutzkeller) von »Bleib‘ gesund!« (Abschiedsgruß aus fast drei Jahren mit Covid 19) entfernt? Anschaulich lässt Jutta Voigt Briefe sprechen und lenkt die Aufmerksamkeit auf gleichsam Nebensächliches.
Erinnert sich noch jemand an die DDR-Wochenzeitung »Sonntag« mit ihren feinsinnigen Feuilletons und Reportagen? Ich entsinne mich, dass ich während meines Studiums extra zum Magdeburger Hauptbahnhof gefahren bin, um eines der begehrten Exemplare zu erwischen.
Judy spaziert durch den Prenzlauer Berg, ihren Berliner Kiez, und ruft die Orte ihrer Eltern ins Gedächtnis. Es ist, als sähe man Mutter Margit vor sich, so wild zu Hause tanzend, dass die »Pfennige von ihren Strumpfhaltern absprangen«. Authentisch auch Vater Willi, der introvertierte. Er kehrte zehn Jahre nach dem Krieg aus der Gefangenschaft zurück, haderte mit sich und der Welt und verbündete sich mit Teufel Alkohol. Judys Mutter verliebte sich in den russischen »Kapitan« Boris, weil er sie so »verzückt« ansah, beschützte und Lebensmittel für sie besorgte.
Judy fand im Brecht-Schüler und späteren Regisseur Henri ihre große Bewunderung und Liebe. Mit ihm eröffnete sich ihr die Welt der Boheme, frisch und federleicht. Durch Henri lernt Judy viele prominente Künstler kennen. Ihre Ehe erlebt Höhen und Tiefen, doch die Grundstimmung des Romans ist die einer selbstbewussten, eigenständigen Frau.
Schön, wie lebendig Jutta Voigt die Sehnsucht nach einem nonkonformistischen Leben schildert und Auswegen nachspürt. Der Roman lebt von der an Metaphern reichen Sprache, den unzähligen Einzelheiten und Farbschattierungen, die hautnah an unsere derzeitigen Ängste und Sorgen anzudocken scheinen.
Das Schicksal von Judys Vater geisterte lange in meinem Kopf herum verbunden mit der Frage, welchen Prüfungen die jungen Soldaten im weiteren Verlauf des russischen Angriffskrieges in der Ukraine noch ausgesetzt werden. Pablo Picassos weiße Taube ist nach 73 Jahren abgestürzt, bemerkt Jutta Voigt am Ende von Judys spannender Lebensgeschichte. »Frieden schaffen mit schweren Waffen. Das müsste doch hinhauen«, schreibt sie weiter. Der Zweifel daran schreit aus diesen Zeilen.
Die Wirklichkeit des Krieges ist nicht schilderbar. Ich habe das überlebt, zwei Tage Dauerfeuer, Knall an Knall, nicht eine Minute, zwei Tage! Was soll ich da noch sagen, mehr sag ich nicht. Ich kann nur sagen, dass ich mich um die Jugend betrogen fühle, um die schönen Jahre, in denen man anfängt, Mensch zu sein.
Jutta Voigt: Wilde Mutter, ferner Vater | Deutsch
Aufbau Verlag 2022 | 256 Seiten | Jetzt bestellen