Julian Barnes: Die einzige GeschichteDie erste Liebe geschieht immer in der überwältigenden ersten Person. Wie könnte es anders sein? Zudem noch im überwältigendem Präsens. Es dauert seine Zeit, bis wir erkennen, dass es auch andere Personen, andere Zeitformen gibt.

Jede Person hat ihre individuelle Liebesgeschichte. So auch der junge Paul, als er sich in die deutlich ältere Susan verliebt. Obwohl alles nach Revolution gegen die elterliche Generation riecht, ist es mehr als nur eine schnelle Affäre. Paul und Susan bleiben fast zwölf Jahre zusammen, doch mit ihrer Geschichte verändern sie sich auch selbst. Rückblickend erzählt Paul von einer ungewöhnlichen Liebe, die stürmisch begann und sich später in Tragik verliert.

Das Buch weckt schon vom ersten Blick auf das Cover meine Neugier. »Die einzige Geschichte« – einmal in roter Schrift getippt, dann durchgestrichen und der gleiche Titel nochmal in verwischter Tinte. Perspektiven ändern sich, ebenso wie Weltanschauungen oder die persönliche Erinnerung. Dass Erinnerung ein Spiel mit Subjektivität und keinesfalls immer glaubwürdig ist, macht Julian Barnes auf wunderbare Weise deutlich.

Chronologische Abläufe und wahrheitsgetreue Dialoge existieren nicht in der Erinnerung. So hat auch Paul oft Schwierigkeiten sich an die genauen Gegebenheiten zu erinnern, aber so oder so ähnlich wird es schon gewesen sein. Das wirft die Frage auf, wie wir jetzt oder in zehn oder in 50 Jahren auf unser Leben und unsere Geschichte schauen. Ist Erinnerung nur ein verzerrter Spiegel der Realität?

Eine zentrale Frage des Romans ist die Frage nach der Liebe. In einem Notizbuch beginnt der Protagonist sich Notizen zu machen. Manche lässt er stehen, manche streicht er durch. Dann schreibt er wieder neue auf bis er zu einem Schluss kommt:

Vielleicht war die Liebe niemals in einer Definition zu erfassen; sie war überhaupt nur in einer Geschichte zu erfassen.

Es gibt auf der Welt unzählige Liebesgeschichten. Schon tausendmal erzählt. Barnes schafft es, das Thema neu zu gestalten und mit traurig-schönen Sätzen zu umrahmen. Jede Geschichte ist so individuell wie die Personen, die sie erleben. Der Blick auf die eigene Geschichte wird sich im Laufe der Zeit verändern, die Perspektive wird eine andere. Barnes macht das sprachlich geschickt deutlich und teilt seinen Roman in drei Teile, wohlwissend, dass es noch viel mehr Teile geben könnte.

»Die einzige Geschichte« ist der erste Roman, den ich von Julian Barnes gelesen habe und er macht definitiv Lust auf mehr!

Julian Barnes: Die einzige Geschichte | Deutsch von Gertraude Krueger
Kiepenheuer & Witsch 2019 | 304 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen