Julia Weber: Immer ist alles schön»Manchmal denke ich, dass Mutter zu groß, zu blond und zu lebendig ist, dann tut es mir leid. Manchmal wünsche ich mir eine Mutter mit mattem Haar, zerknitterter Schürze, sanften, müden Augen. Manchmal vermisse ich Mutter, obwohl sie da ist, und manchmal habe ich das Gefühl, sie sitzt in mir drin.« (Anais über ihre Mutter)

Julia Webers Roman »Immer ist alles schön« erzählt von der Geschwisterliebe zwischen Anais und Bruno, die gemeinsam mit ihrer Mutter weit ab von der Alltäglichkeit leben. Maria arbeitet als Tänzerin in einer Bar. Das Leben als alleinerziehende Mutter gelingt ihr eher schlecht als recht. Alkohol gehört für Maria ebenso zum Leben wie häufig wechselnde Männerbekanntschaften. Sehen die Kinder in den jeweiligen Partnern einen Hoffnungsschweif von Normalität am Horizont, flüchtet die Mutter aus der jeweiligen Beziehung. Das ist nicht schön, auch wenn Maria es sich und ihren Kindern immer wieder einredet.

Sehr schön, sagt sie.
Fantastisch, sagt sie.
Wunderbar, sagt sie.
Ganz, ganz wunderbar.

Immer ist alles schön, sagt Bruno …

Schön ist, wie Tochter Anias die Geschichte aus ihrer Sicht erzählt. Welch unverbrauchter, zuweilen urkomisch anmutender Blick auf die Welt entfaltet sich mit jedem poetischen Bild! Schön ist, wie Anais und Bruno als Geschwister zusammenhalten und ihren eigenen inneren Kosmos aufbauen. Halt im Haus gibt der auf der Straße gesammelte Trödel. Mit Hilfe von Brunos Wissensdrang und Anais‘ scharfer und dennoch einfühlsamer Auffassungsgabe bauen sich die Geschwister ein Gefüge, das ihnen Kraft gibt. Das Leben da draußen – ein Chaos! Anais möchte Kontakt zu ihrem Klassenkameraden Peter und traut sich nicht, ihn anzusprechen. Für ihn als Außenstehenden ist es schwierig, in ihr Universum einzudringen und es zu verstehen.

Hat es sich der Leser in der kindlichen Phantasie bequem eingerichtet, holt ihn Julia Weber abrupt zurück in die Wirklichkeit. In der Erwachsenenwelt durchtränkt der Alkohol das Leben der Mutter, ihr Bedürfnis nach Männerbekanntschaften entpuppt sich als zwanghaft und das Anhäufen des vielen Krimskrams entfaltet Messie-Manieren. Maria nennt ihre Kinder »meine Tierchen«, womit der Leser unumgänglich Haustiere assoziiert. Natürlich ist das aus ihrer Sicht liebevoll gemeint. Andererseits offenbart dieser Kosename ihre innere Zerrissenheit zwischen der Verantwortung als Mutter und den eigenen unerfüllten Bedürfnissen.

Anais und Bruno lieben ihre Mutter und wollen ihre kleine Welt unbedingt vor Störenfrieden schützen. Der »Riese vom Jugendamt« ist deswegen nicht willkommen. Als Maria eines Tages verschwindet, hinterlässt sie ihren Kindern lediglich eine Postkarte mit einem Gruß. Anais will ihren Bruder trösten und lässt um ihn herum mit Hilfe unterschiedlicher Naturmaterialien eine fantastische Welt entstehen.

Julia Weber versteht es, den Leser mit ihrer an lebendigen Bildern reichen Sprache in die tiefsten Gefühle von Anais eintauchen zu lassen. Die dazwischen eingeschobenen Passagen aus der Sicht der Mutter Maria beschreiben eine sehr depressive Frau – ebenso tiefgründig, ebenso einfühlsam.

Wem das noch nicht reicht, der hat am Ende des Buches die Möglichkeit, mit Hilfe der Zeichnungen in die Kinder(zauber)welt einzutauchen, um sie noch besser zu verstehen. Wer den Schutzumschlag ausbreitet, dem fliegt zeichentechnisch die Liebe zu Peter in kleinen Blättern entgegen. Eine großartige Idee, die das Geschwisterpaar endgültig in die Herzen des Lesers schließen lässt. In Julia Webers grandios beschriebener Gratwanderung zwischen der kindlich-witzigen Neugierde auf das Leben und der letztlichen Verzweiflung daran liegt der Reiz dieser Geschichte. Mit Anais und Bruno hat sie der Literaturwelt ein zutiefst beeindruckendes Geschwisterpaar hinzugefügt.

Julia Weber: Immer ist alles schön | Deutsch
Limmat 2017 | 256 Seiten | Jetzt bestellen