Julia Franck: Rücken an RückenDer fünfte Roman von Julia Franck heißt »Rücken an Rücken«. In ihrer ersten Veröffentlichung nach dem Buchpreis für die »Mittagsfrau« nimmt sich die Autorin erneut einer Geschichte um vernachlässigte Kinder an. Im Mittelpunkt steht diesmal das Geschwisterpaar Ella und Thomas, das im Rheinsberger Haus (nördlich von Berlin) der Mutter Käthe aufwächst. Viel Leid geschieht hier zwischen den späten Fünfzigern und dem Anfang der sechziger Jahre.

Käthe begegnet dem Leser als eine gefühllose Anti-Mutter. Sie lässt sich bewusst beim Vornamen anreden und lebt das, was man keinem Kind auf Erden wünscht: Nichtachtung, Nichtliebe, schamlose Ausnutzung, Missbrauch, rigide Bestrafungen … Man erahnt das böse Ende und wird von einem Strudel aus Faszination und unbehaglicher Spannung mitgerissen. Angewidert von der Bösartigkeit, die den Kindern widerfährt, vergisst man förmlich, das Buch aus der Hand zu legen.

Die Geschwister schwören sich in ihrem eigenen Universum bedingungslose Zusammengehörigkeit. Dies schützt sie jedoch nicht vor den tragischen Ereignissen ihres Umfeldes. Erbarmungslos werden sie an den Auseinandersetzungen um Freiheit und deren unterschiedliche Auslegung zerrieben.

Der Titel des Romans liegt nah. Die einfache Metapher gibt den Konflikten Nahrung: Ella und Thomas sitzen am liebsten Rücken an Rücken und ersinnen Geschichten über ihren Vater. Der starb, als beide noch ganz klein waren. Rücken an Rücken finden sie zwar Halt, schauen aber auch in entgegengesetzte Richtungen.

Käthe verwöhnt den Hund, ihre Kinder umarmt sie jedoch nicht. Als Mädchen erlebte sie ihren Vater nur schroff und abweisend. Der Mann, den sie liebte, starb im Krieg. Derjenige, den sie später heiratet, missbraucht ihre Tochter. Das will sie wiederum nicht wissen. Als der Roman beginnt, ist Eduard bereits aus dem Haus verschwunden, so wie die namenlosen Zwillinge, die sie ihm gebar. Stattdessen lässt Käthe einen Untermieter im Haus wohnen. Auch der vergewaltigt Ella. Nur ihrem Bruder gesteht sie diese Entwürdigung.

Während Ella den Untermieter provoziert, fühlt sich Thomas aufgrund seines Geschlechts mitschuldig. Deshalb will er jeglichen Trieb in sich selbst unterdrücken. Als er nach dem Abitur in einem Steinbruch seine Tauglichkeit für den Arbeiter- und Bauernstaat beweisen soll, wird er dort bis zum Zusammenbruch gepeinigt. Damit schließt sich der Rahmen um den Missbrauch im Namen des sogenannten Sozialismus.

Bis zur Pubertät halten die Geschwister eng zusammen. Bis zu ihrer Erkrankung scheint die temperamentvolle, um ein Jahr ältere Ella die stärkere zu sein. Danach tritt der empfindsame und grüblerisch veranlagte Thomas immer mehr in den Mittelpunkt. Sprachlich ist er es ohnehin durch seine Lyrik, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht.

Ella und Thomas erzählen abwechselnd mit so eindringlicher Sprache, dass der Leser gelähmt und zugleich gefesselt ist. Erschüttert taucht man von einer Extremsituation in die nächste. Francks wohl überlegte Übertreibungen reservieren dem Schauder einen festen Platz. Sei es als Käthe ihren Sohn stundenlang nackt und frierend Modell stehen lässt oder Ella von ihr als Vorratsdiebin beschuldigt wird und einen Haufen Zucker geschenkt bekommt.

Die Magersucht als Folge dessen übergeht Käthe ebenso wie alle anderen Hinweise auf das tiefe Unglück ihrer Kinder. Während Ella sich wehrt, die Schule schwänzt, trinkt und in ihrem Narzissmus der Mutter immer ähnlicher wird, will Thomas alles richtig machen. Doch er ist der einzige, der aufbegehrt und ausreisen will.

Ein Versuch, mit der Familie in Amerika Kontakt aufzunehmen, scheitert. All seine Verzweiflung, Angst und Schuldgefühle finden in den bereits erwähnten Gedichten ihren Ausdruck. Zart und ungelenk zwar, doch sehr bildhaft. Thomas entfernt sich immer weiter von Käthe und auch von Ella. Während der Vorbereitung auf das ihm aufgezwungene Medizinstudium (eigentlich Privileg der Arbeiterkinder und Linientreuen) lernt Thomas in der Klinik die Krankenschwester Marie kennen. Mit dieser wahrhaften wie innigen Liebe ist die Katastrophe ein Fragen von Seiten …

Gut, dass Julia Franck erst zum Schluss auf den Nachlass von Gottlieb Friedrich Franck (ihrem Onkel mütterlicherseits) hinweist, dem sie die Gedichte entnommen hat. Der Sohn der Bildhauerin Ingeborg Hunzinger hat sich 1962 mit achtzehn Jahren das Leben genommen. Man mag darüber streiten, ob die Schriftstellerin ihm ein würdiges Denkmal gesetzt hat, ob sie das überhaupt wollte oder nicht. Das Buch spiegelt das geteilte Gestern einer Nation, mahnt die Auseinandersetzung mit dem Gewesenen an, erinnert und zeigt tiefgründig wie eindrucksvoll, dass Freiheit nichts Selbstverständliches ist.

Julia Franck: Rücken an Rücken | Deutsch
S. Fischer Verlag 2011 | 384 Seiten | Jetzt bestellen