Julia Engelmann: Himmel ohne Ende

Der Text »Eines Tages, Baby« der Poetry-Slammerin, Schauspielerin, Sängerin und Autorin Julia Engelmann wurde bis Ende 2020 allein auf YouTube über 13 Millionen Mal angeklickt. Auch ich drängelte mich vor 10 Jahren auf der Leipziger Buchmesse nach einem Autogramm von ihr. Mit dem im Sommer bei Diogenes erschienenen Buch »Himmel ohne Ende« legte sie nun ihren ersten Roman vor. Eine Coming-of-Age-Geschichte, deren Protagonistin Charlie neben Maik Klingenberg (aus Wolfgang Herrndorfs »Tschick«), Edgar Wibeau (aus Ulrich Plenzdorfs »Die neuen Leiden des jungen W.«), Holden Caulfield (aus J.D. Salingers »Fänger im Roggen«) oder Jean Louise, genannt Scout (aus Harper Lees »Wer die Nachtigall stört«) nach einem Platz in meinem Herzen sucht.

»Meine beste Freundin hatte mich angelogen. Weil ich komisch war. Weil ich die falschen Gedanken hatte, die zu den falschen Worten führten, die alles kaputtmachten. Und weil ich zu still war und zu dumm und zu komisch und sowieso nur jeder von mir wegwollte.«

In Julia Engelmann Roman-Debüt begleitet man Charlie von einem Geburtstag bis zum nächsten. Die 15-Jährige lebt mit ihrer Mutter zusammen, ihre Noten in der Schule sind mittelprächtig. Ihr Meerschweinchen Markus liebt sie über alles, mit der Abwesenheit ihres Vaters hadert sie regelmäßig. Charlie ist unglücklich in ihren Klassenkameraden Mikolaj verliebt. Ihre beste Freundin Kati versteht sie plötzlich nicht mehr. Auch die anderen aus ihrer Klasse scheinen sie nicht mehr ernst zu nehmen und lästern hinter ihrem Rücken. Noch schwerer wiegt, dass ihre Mutter mit einem neuen Mann nach Hause kommt. Ein typisches Pubertätsdrama?

Dann kommt ein neuer Schüler in die Klasse. Er heißt Kornelius, wird jedoch wegen seiner Größe und der strohblonden Haare Pommes genannt. Charlie mag ihn und freundet sich mit ihm an. Pommes lockt sie aus ihrem Kokon, sie philosophieren, vermessen die Tiefe des Himmels, sprechen über den Tod und klettern auf Dächer. Was für ein Geheimnis verbirgt Pommes?

Julia Engelmann spürt der zerbrechlichsten Zeit des Lebens nach. Eine Zeit des Sich-Ausprobierens, des Sich-Findens. Aber auch eine Zeit der Sprachlosigkeit, der Abgeschiedenheit. Deshalb, so sagte Julia Engelmann während der Lesung in der Magdeburger Thalia-Buchhandlung, habe sie das »Stillsein« in den Mittelpunkt ihre Romanes gestellt. »Irgendwann kommt der Tag, an dem ich endlich lauter bin. Und wenn ich etwas sage, und keiner hört das?«, fragte die Autorin. Alles kreist um das Lieben-Lernen vom unperfekten eigenen Selbst und der unperfekten Umwelt. Welche Rolle spielen Freundschaften in dieser Zeit? Und vor allem, was macht eine bedeutsame Freundschaft aus, wenn man sich von seiner Kindheit verabschieden muss und zum ersten Mal seine eigene Selbstverständlichkeit erlebt?

Wer wollen Charlie und Pommes sein? Ihr aktueller Traum ist es, gemeinsam nach Paris zu fahren. Doch das will erst einmal nicht funktionieren. Dass Charlies Mutter sich in den italienischen Kellner des nahegelegenen Restaurants verliebt und sogar ein Kind von ihm erwartet, lässt die Welt der Teenagerin beinahe völlig aus den Fugen geraten. Gemeinsam mit Pommes tritt Charlie die Reise aus der Stille an, hinaus in die Öffentlichkeit. Sie rauchen ihre erste Zigarette, gehen zusammen schwimmen. Charlie färbt sich die Haare blau, bricht auf der Schul-Theaterbühne ihr Schweigen. Pommes inspiriert sie dabei, ermutigt sie.

Julia Engelmanns Sprache kommt unsentimental und schnörkellos daher. Ihre Poesie entsteht durch die Stille, die man zwischen den Zeilen spürt. Eine Zartheit, der man das »Himmelhochjauchzend, zum Tode betrübt« jederzeit abnimmt. Charlies Coming-of-Age-Geschichte fesselt bis zur letzten Seite. Julia Engelmanns Sprachduktus während der Lesung, pardon, des Aufführens, ließ ein wenig von der einstigen Poetry-Slammerin durchschimmern. Das gab dem Text noch mehr Authentizität. Maik, Edgar, Holden und Scout müssen nun ein wenig zusammenrücken in meinem Herzen – für Charlie.

Julia Engelmann: Himmel ohne Ende | Deutsch
Diogenes 2025 | 336 Seiten | Mehr lesen | Bestellen