Joseph Sheridan Le Fanu: Carmilla, der weibliche Vampir»Carmilla« erschien 1872 als Bestandteil des Bandes »In a glass darkly« und gilt als erheblicher Einfluss für den weltberühmten »Dracula«-Roman Bram Stokers, den dieser 1897 veröffentlichte. Natürlich nimmt der Romantitel schon viel vorweg und so besteht von Anfang an kein Zweifel, was uns im folgenden erwartet. Dennoch erweist sich das Buch als ein reines Lesevergnügen, denn dem Schriftsteller gelingt es von der ersten Seite an, eine düstere Atmosphäre zu kreieren, die den Leser in den Bann schlägt.

Augenblicklich sehen wir uns zurückversetzt in die Steiermark in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Laura lebt zusammen mit ihrem Vater, ihrer Gouvernante Madame Perrodon und Mademoiselle de Lafontaine, einer Hauslehrerin und Gesellschaftsdame in Personalunion, in einem alten Schloss. Dieses ist recht abgelegen, und so sehnt sich Laura verständlicherweise nach Abwechslung, idealerweise nach einer Gefährtin, mit der sie sich austauschen kann. Durch einen Zufall wird ihr dieser Wunsch erfüllt. Als sich vor dem Schloss ein Unfall mit einer Kutsche ereignet, erklärt sich ihr Vater sofort bereit, eine der Insassinnen, eine junge Dame namens Carmilla, bis auf weiteres bei sich aufzunehmen. Zunächst ist die Fremde noch von einer Ohnmacht befallen. Als sie sich jedoch erholt, erkennt Laura in ihr das Gesicht, welches ihr vor Jahren im Traum erschien. Als sie Carmilla darauf anspricht, gesteht diese ihr, genau den selben Traum gehabt zu haben. Trotz dieser Merkwürdigkeit freunden sich die beiden jungen Frauen schnell an.

Die Wonne meiner ungeheuren Demütigung auskostend, lebe ich in deinem warmen Leben, und du sollst in mir aufgehn wie in einem süßen Tod.

Die Freundschaft der beiden wird immer wieder in zärtlichen, teils schwülstigen Formulierungen beschrieben, ein Verhältnis, das die Schwelle zu einem sexuellen Verhältnis streift, diese jedoch nie überschreitet. Schon der Titel der Geschichte lässt erahnen, dass das Verhältnis der beiden von inniger Zuneigung geprägt sein könnte. Der Vampirismus, der dieser Zweisamkeit zugrunde liegt und der nach dem Willen des Vampirs zu Lauras Untergang führen soll, liest sich (siehe Zitat) fast schon wie ein erotisches Beisammensein, eine krude Romantik, die Coppola viele Jahre später in seiner grandiosen »Dracula«-Verfilmung in den Mittelpunkt stellen sollte, wenngleich mit anderen Vorzeichen.

Und so mehren sich die Schatten, je länger der Roman fortschreitet. In der Nähe des abgelegenen Schlosses sterben Menschen an einer rätselhaften Krankheit, bis schließlich auch Laura von dieser seltsamen Erkrankung ergriffen wird. Der Ire Joseph Sheridan Le Fanu war einer der bekanntesten Autoren englischsprachiger Schauergeschichten. »Carmilla« ist wohl der Höhepunkt seines Alterswerks. Ein Jahr nach Veröffentlichung des Bandes starb er in seiner Heimatstadt Dublin. »Carmilla« hingegen hat die Zeit überdauert und lehrt uns auch heute noch ein wohliges Gruseln.

Grundlage dieser Besprechung ist die Taschenbuchausgabe von 1979. Das Werk wird jedoch bis heute im Schweizer Diogenes Verlag aufgelegt, zuletzt im Jahre 2019.

Joseph Sheridan Le Fanu: Carmilla, der weibliche Vampir | Deutsch von Helmt Degner
Diogenes 2019 | 128 Seiten | Jetzt bestellen