Joey Goebel: Vincent»Großer Schmerz gebiert große Kunst« – wer kennt nicht diese Pseudoweisheit, aber vielleicht ist da ja wirklich etwas dran? Kurt Cobain, der im Übrigen das Cover dieses Romans ziert, können wir nicht mehr fragen, ebenso wenig Vincent van Gogh, der als Vornamensgeber hier Pate stand, aber sei’s drum.

Der Medienmogul Foster Lipowitz kontrolliert mit seinem Firmengeflecht die amerikanische Unterhaltungsindustrie und beschallt unentwegt das unkritische Publikum mit debilen Klanggebilden und ebenso inhaltsleeren wie verblödenden Filmen und Serien, frei nach dem Motto: »Gebt dem Volk, was es will!« Und was will der Mob? Natürlich seichteste Unterhaltung auf niedrigstem Niveau – bloß nicht Nachdenken müssen, lautet die Devise im modernen Amerika. Auf der Zielgerade seines Lebens plagen ihn jedoch Gewissensbisse und so beschließt er, das Ruder herumzureißen, in dem er das Land zukünftig mit hochwertiger Kunst versorgt. Seine Philosophie: Nur ein leidender Künstler ist in der Lage, große Kunst zu produzieren. Flugs wird eine Akademie gegründet, die die zukünftigen kreativen Heilsbringer zur Marktreife führen soll.

Einer der Schüler, der schon in frühen Kinderjahren eine solche Ausbildung erfährt, ist Vincent Djapushkonbutm, der seinen unaussprechlichen Nachnamen seiner heruntergekommenden Mutter verdankt, die für jeden gefügig ist, der Lust auf sie hat und die ihren Namen von einen Durchreisenden erhielt, den sie kurzerhand ehelichte. Es sind sehr ärmliche Verhältnisse, in denen Vincent aufwächst.

Als seine Mutter Veronica das Angebot bekommt, ihren Sohn an die lipowitzsche Medienmaschine zu verkaufen, zögert sie nicht lange. Damit der extrem talentierte Vincent das Beste aus seinem Anlagen macht, wird ihm ein »Beschützer« namens Harlan zur Seite gestellt, der dafür sorgt, dass Vincent immer unglücklich bleibt, um dann seinen leidenden Seelenzustand in göttlicher Kunst aufgehen zu lassen. Immerhin bemüht sich sein »Schutzengel«, ihm nichts Schlimmeres widerfahren zu lassen, als das, war er selbst erlebt hat. Und Vincent liefert gewaltig im Laufe seiner Karriere – Songs und Drehbücher für Filme und Serien, die das künstlerische Niveau dramatisch steigern und den Markt mit nie dagewesenen Unterhaltungsperlen füttern, reihen sich aneinander. Aber was ist das für ein Leben? Ständiges Leid, ewiges Unglück – wer möchte ein solches Dasein führen? Und so beginnt sich Widerstand zu regen in Vincents sensiblem Gemüt.

»Torture the Artist«, so der Originaltitel des 2004 veröffentlichten Romans, war Goebels zweites Buch. Er spricht darin vielen aus der Seele. Wie oft werden wir im Radio mit geistlosem Gedudel gefoltert oder mit niveaulosen Streifen, deren Möchtegerndialoge so peinlich sind, dass sich einem die Ohrmuscheln zuklappen? Dieses Buch ist wichtig, denn es hält uns den Spiegel vor, mit welch unfassbaren Müll wir uns zuschütten lassen, und es ist nur ein Aspekt dieses Romans. Es geht im weiteren Sinn auch um die wirklich wichtigen Themen des Lebens: Freundschaft, Familie und Liebe, ohne die alles nichts ist und die kein Geld der Welt aufwiegen kann.

Nur gut, dass es die Inseln der Unbeugsamen gibt, die auch im wahren Leben Kunst produzieren, welche diesen Namen verdient. Auf einem dieser malerischen Flecken residiert zweifellos Joey Goebel.

Joey Goebel: Vincent | Deutsch von Hans M. Herzog und Michael Jendis
Diogenes 2007 | 448 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen