Zunächst: Ich habe mich zu keiner Sekunde gelangweilt. Im Gegenteil: Ich war eher traurig, dass nach 432 Seiten Schluss war, aber das ist natürlich meine ganz persönliche Einschätzung.
Oberflächlich gesehen geht es in »Ich gegen Osborne« um einen Teenager, der versucht, den ihm so verhassten Abschlussball seiner High School zu verhindern. Joey Goebel hat mit James Weinbach erneut einen Charakter erschaffen, der dem Leser dauerhaft im Gedächtnis bleiben wird. Das Buch ist eine scherenschnittartige Schwarz-Weiß-Darstellung des High School Lebens, aber es spiegelt leider die traurige Realität wieder: Kinder und Jugendliche sind in ihren Urteilen oft gnadenlos, und so läuft eine sichtbare Trennlinie zwischen denen, die »Cool« sind, und den ewigen Verlierern. Ein Wechsel nach unten oder oben findet in der Regel nicht statt.
James Weinbach (der Protagonist des Buches) und Chloe (seine unerfüllte Liebe) sind so ziemlich die einzigen, die an dieser Schule eine gewisse Klasse aufweisen, wenngleich man in Chloes Fall Sorge haben muss, dass sie nach ihrem legendären Spring Break einen substantiellen Niveauverlust erlitten haben könnte. Joey Goebel ist es gelungen, die Gedankenwelt des Protagonisten überzeugend vor uns auszubreiten. James wird als intelligenter Junge mit einer nicht unerheblichen emotionalen Intelligenz gezeichnet. Seine Gedanken geben den Sorgen und Nöten eines jeden schulischen Verlierers ein Gesicht, er wird zu ihrem Sprachrohr.
Der Grund, warum diese Geschichte im Jahr vor der Jahrtausendwende spielt, ist vermutlich folgender: Das Jahr 1999, die Schwelle zum nächsten Jahrtausend – einer kalendarischen Veränderung, wie sie nur wenige Menschen miterleben dürfen, einem epochalen Ereignis (was es natürlich nicht war, abgesehen von dem Computerproblemen, die sich durch Y2K ergaben).
Hierzu passt, dass auch alle diese Schüler in ihrem Abschlussjahr vor großen, epochalen Veränderungen stehen: dem Wechsel von High School aufs College, aber natürlich noch viel mehr vor dem Ende der Jugend und dem unwiderruflichen Eintritt ins Erwachsenenleben. Der Abschlussball: der verzweifelte Versuch, das Übertreten der Schwelle zum Erwachsensein zu verhindern (und sei es nur durch die spätere Erinnerung daran, beim Betrachten der Fotos des Jahresabschlussbuches oder in Gedanken an den langsam geschwoften Tanz mit der großen Liebe im Arm, welche kurz darauf schon wieder vergessen ist). James Weinbach: der leidende Chronist des jugendlichen Endzeitszenarios, erhaben in seinen Gefühlen, unfähig (wie alle auf der Schattenseite stehenden), wirklich etwas zu verändern. Den Lauf der Dinge und der Zeit kann er auch nicht aufhalten.
Was mich nach dem Lesen des Buches wirklich umtreibt, ist eine ganz andere Frage: Wieviel Joey Goebel steckt in James Weinbach, wenn man bedenkt, dass der Autor schon mit 16 Jahren seine eigene Punkband hatte und damit die Staaten bereist hat und wenn das Autorenfoto auf den Rückseiten der Diogenes-Bände den Eindruck vermittelt, hier sitzt ein Unangepasster, ein ewiger Rebell, ein Nicht-mit-dem-Strom-schwimmen-Wollender? Was gut ist.
Joey Goebel: Ich gegen Osborne | Deutsch von Hans M. Herzog
Diogenes 2013 | 432 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen