Tag für Tag hockte Blue Gene auf einem metallenen Klappstuhl – einem von der Sorte, mit dem sich Profi-Wrestler gegenseitig vermöbeln – an seinem Tisch, zwirbelte häufig seinen Kung-Fu-Schnauzbart und horchte manchmal in sich hinein, um herauszufinden, ob seine Tabletten halfen, was er für unwahrscheinlich hielt, da jedes Antidepressivum, das er bisher probiert hatte, auf der Liste seiner Nebenwirkungen »Depressionen« führte.
Blue Gene Mapother, Vokuhila-Träger mit Vorliebe für Action-Figuren und Monstertruckrennen, haust in einem Wohnwagen und verdient sein Geld auf dem Flohmarkt. Als Spross der reichsten Familie der Gegend lebt er freiwillig in einem Trailerpark. Er ist White Trash und genau diese Wählerschicht soll er nun für die politische Karriere seines Bruders erobern. Denn John, sonst ein ausgefuchster Polit-Profi und brillanter Redner, findet keinen Zugang zum einfachen Volk.
Nachdem Blue Gene erste Erfolge für ihn erzielt hat, stößt er auf ein düsteres Familiengeheimnis und bricht alle Kontakte zu seinen Verwandten ab. Er fordert sein Erbe ein und ist plötzlich der drittreichste Mann der Stadt. Und was tut einer wie er mit 400 Millionen? Als erstes kauft er den stillgelegten Walmart, in dem er einmal gearbeitet hat, und wandelt ihn um in eine Art Kulturzentrum mit Livekonzerten und ärztlicher Versorgung für Bedürftige.
Eine weitere große Leidenschaft von Blue Gene ist Wrestling. Bei einer Veranstaltung lernt er die Rockmusikerin Jackie Stepchild kennen, die mit ihren provozierenden Thesen über Amerika das Publikum gegen sich aufbringt:
»Warum singt ihr die Nationalhymne nicht vor Filmbeginn im Kino, im Theater oder bei Konzerten? Das liegt daran, dass das Produkte des Verstandes sind, Produkte des Intellekts, und wir den Intellekt in unserem Land nicht achten. Deshalb ist Paris Hilton die berühmteste Amerikanerin.«
Manche Szenen sind langatmig, aber sie sind nie langweilig. Goebel schöpft sie bis zum letzten aus. Auf den ersten hundert Seiten passiert eigentlich nichts. Aber auf eine so unterhaltsame Art und Weise, wie man es nur von den Besten kennt. Die Verlagswerbung verweist nicht zu Unrecht auf John Irving und T. C. Boyle. Joey Goebel schaut genau hin und offenbart, oft mit kleinsten Details und beißendem Humor, ein eindrucksvolles Gesellschaftsbild der amerikanischen Provinz. Die frömmlerische Mutter, der mächtige, aber abweisende Vater, die idealistische Weltverbesserin Jackie, all diese Figuren hätten das Zeug zur Karikatur, aber so einfach macht es sich der Autor nicht. Die Charaktere sind realistisch und glaubwürdig und genau das macht Heartland so fesselnd.
Goebel hat mit »Vincent« und »Freaks« bereits zwei höchst lesens- und empfehlenswerte Bücher veröffentlicht. Mit seinem dritten Buch setzt er diesen Erfolg fort.
Joey Goebel: Heartland | Deutsch von Hans M. Herzog
Diogenes 2009 | 720 Seiten | Jetzt bestellen