Er hing an einem Seil über dem Abgrund – und sein Freund schnitt es durch. »Touching the Void« von Joe Simpson ist eines der spannendsten und am hitzigsten diskutierten Bergsteigerdramen der Welt. Zwei Engländer, der Autor Joe Simpson und sein Freund Simon Yates, wollen durch eine Erstbesteigung in den Anden in die Geschichte eingehen. Dafür haben sie sich die Westseite des 6344 Meter hohen Gipfels Siula Grande in Peru ausgesucht. Sie sind jung und gehen ihr Unterfangen, wie sie später selbst zugeben, recht unbedarft an – mit ungenügender Vorbereitung und Ausrüstung: »Wir wussten nicht wirklich, was wir taten«, sagte Yates Jahre später in einem Interview.
Zwar erreichen sie den Gipfel, doch beim Abstieg stürzt Simpson und bricht sich das Knie – ohne jede erreichbare Bergrettung in der Nähe eigentlich ein sicheres Todesurteil. Zunächst gelingt es den beiden, sich abwechselnd abzuseilen. Doch dann hängt Simpson am Ende des Seils über einem Eisvorsprung in der Luft und hat keine Möglichkeit, seinem Kletterpartner zu signalisieren, in welcher Lage er sich befindet. Yates hält das Seil fest, bis sein eigenes Leben in Gefahr gerät und er droht, den Halt zu verlieren. Dann schneidet er es durch.
Simpson stürzt mit seinem bereits gebrochenen Bein so weit in die Tiefe, dass es an ein Wunder grenzt, dass er nicht durch den Fall zu Tode kommt. Stattdessen landet er auf einem Vorsprung in einer Gletscherspalte. Zum zweiten Mal, aber noch längst nicht zum letzten Mal im Lauf dieser Expedition, sieht er sich mit dem sicheren Tod konfrontiert, schafft aber das Unglaubliche: Er krabbelt mit seinem gebrochenen Bein aus der Spalte heraus und den ganzen Weg zurück in ihr Basislager, wo er seinen Freund gerade noch antrifft. Yates war bereits kurz davor, sich auf die Rückreise zu machen.
Zugetragen hat sich die haarsträubende Geschichte 1985, drei Jahre später erschien Simpsons Erlebnisbericht »Touching the Void« (auf Deutsch erstmals erschienen unter dem Titel »Sturz ins Leere« 1999 bei Heyne, übersetzt von Edigna Hackelsberger). Am Anfang zieht sich Simpsons Schilderung ein wenig – vielleicht aber auch nur, weil es fast unmöglich ist, das Buch heute in die Hand zu nehmen, ohne zuvor von der Geschichte gehört zu haben. Faszinierend zu lesen ist aber Simpsons eindrückliche Beschreibung seines psychischen Zustandes, während er wieder und wieder mit scheinbar unüberwindbaren Hindernissen konfrontiert ist und trotzdem nicht aufgibt, obwohl er mehrmals kurz davorsteht. Kein Wunder, dass er nach diesem Erlebnis eine erfolgreiche Karriere als Motivationstrainer hinlegte.
Endlos faszinierend ist natürlich die Frage, ob es in Ordnung war, dass Yates das Seil durchschnitt – und nicht wirklich gründlich nachschaute, ob sein Freund noch lebte, als er selbst beim Abstieg an der Gletscherspalte vorbeikam. Yates, der in »Touching the Void« stellenweise selbst zu Wort kommt, wurde – und wird heute teilweise immer noch – von vielen Seiten für diesen scheinbar ultimativen Tabubruch kritisiert, obwohl er dadurch genau genommen Simpsons Leben gerettet hat. Simpson selbst hat Yates nie Vorwürfe gemacht und immer beteuert, dass er an seiner Stelle genauso gehandelt hätte. Dennoch sind die beiden heute interessanterweise keine guten Freunde mehr, obwohl beide nach wie vor klettern.
Die Vintage-Ausgabe von 1998 enthält ein zusätzliches Kapitel darüber, wie Simpson sich fühlte, als er zehn Jahre nach den Ereignissen für die Verfilmung der Besteigung mit Yates an den Originalschauplatz in den Anden zurückkehrte.* In diesem Kapitel, aber auch schon in der ursprünglichen Erzählung, deutet sich einer der interessantesten Aspekt der Geschichte an: wie sich Simpsons Einstellung zum Bergsteigen verändert hat.
Ursprünglich zum Bergsteigen hingezogen fühlte sich Simpson nach der Lektüre von Heinrich Harrers Bericht über die Durchsteigung der Eiger-Nordwand, »Die Weiße Spinne« von 1959. Simpson versuchte sich spät selbst am Eiger und sah dort mit eigenen Augen andere Kletterer in den Tod stürzen. Nach dem Drama in den Anden, nach dem er mehrfach operiert werden musste und mehrere Ärzte ihm versichert hatten, dass er nie wieder gehen könnte, erarbeitete sich Simpson seine Fähigkeit zum Extrembergsteigen zwar zurück. Doch mit den Jahren scheinen sich die Zweifel, die er bereits in »Touching the Void« anspricht, zu verstärken. In späteren Büchern, vor allem »This Game of Ghosts« (deutsch »Spiel der Geister«) und »The Beckoning Silence« (»Im Banne des Giganten«), beschäftigte er sich, vielleicht intensiver und tiefgründiger als alle anderen Bergsteiger bisher, mit der Frage, was Menschen überhaupt dazu treibt, ihr Leben am Berg zu riskieren – und ob das vergängliche Glücksgefühl am Berg den Tod wert ist.
* Der Film erschien 2003 ebenfalls unter dem Titel »Touching the Void« und wurde, wie das Buch, mit renommierten Preisen ausgezeichnet.
Joe Simpson: Touching the Void | Englisch
Vintage Books 1998 | 224 Seiten | Jetzt bestellen
Deutschsprachige Ausgabe:
Sturz ins Leere: Ein Überlebenskampf in den Anden | Deutsch von Edigna Hackelsberger
NG Taschenbuch 2009 | 304 Seiten | Jetzt bestellen