Dieser neue Kurzgeschichtenband (sein zweiter nach »Black Box«) beinhaltet dreizehn Erzählungen, darunter zwei, die er zusammen mit seinem Vater Stephen King geschrieben hat, nämlich die Titelgeschichte sowie »Im hohen Gras«, welche schon seit einigen Jahren als E-Book erhältlich ist.

»Im hohen Gras« ist eine der packendsten Geschichten in diesem Band und wahrlich nichts für zarte Gemüter. Die Geschichte über ein Geschwisterpaar, das in der Mitte von Nirgendwo ein Feld mit massivem hohen Gras betritt, um einen offenbar verirrten Jungen daraus zu retten, wird immer klaustrophobischer, bis sie schließlich im völligen Wahnsinn endet. Einige der dort beschriebenen Szenen muss man schon als geradezu widerwärtig bezeichnen. Dennoch lässt die Spannung den Leser nicht los und man fiebert dem Schluss entgegen. Im direkten Vergleich der beiden Gemeinschaftsproduktionen hat »Im hohen Gras« klar die Nase vorn, wenngleich »Vollgas« auch durchaus lesenswert ist: ein offensichtlich wahnsinniger Trucker verfolgt eine kriminelle Motorradgang in bester Stephen Spielberg-Manier (»Duell«).

Mein persönlicher Favorit ist Geschichte »Wolverton Station«, die in seinem Blutrausch an die bildgewaltigen Kurzgeschichten von Clive Barker erinnert (z. B. »Midnight Meat Train) und passenderweise spielt diese Geschichte auch zeitweise in einem Zug. Hätte die Hauptfigur Sanders vorher über seine Mitreisenden Bescheid gewusst, hätte er todsicher ein anderes Beförderungsmittel gewählt. Diese Story schreit geradezu nach einer Comic-Adaption, ein blutrotes Farbenfest und eine packende Erzählung.

In »Faun« wird das Tor zu einer anderen Welt durchschritten, mit allen Konsequenzen. Nicht nur Horrorfans werden diese Geschichte lieben, auch Liebhaber von »World of Warcraft« kommen hier auf ihre Kosten. In »Das Karussell« huldigt Joe Hill einem der ganz Großen der amerikanischen Fiktion, denn im Zentrum der Geschichte steht ein bradburieskes Karussell – ich musste sofort an »Das Böse kommt auf leisen Sohlen« denken. Paul und seine Freunde lernen im Laufe der Erzählung auf die ganz harte Tour, dass manche Sünden schnell bestraft werden.

Völlig aus dem Rahmen fällt die Geschichte »Meine Welt dreht sich nur um dich«. Hier handelt es sich um eine Science-Fiction-Story, die man so in einem Buch von Joe Hill nicht erwartet hätte. Es macht Sinn, den Text zweimal zu lesen, denn zu Beginn versteht die auf Horror programmierte Leserschaft zunächst einmal wenig bis gar nichts. Ich kann diesem Zweig der Literatur nicht viel abgewinnen, muss aber fairerweise sagen, dass mir die Geschichte dann doch ganz gut gefallen hat. Auch die restlichen Geschichten sind überwiegend lesenswert, vielleicht mit zwei Ausnahmen: »An den silbernen Wassern des Lake Champlain« fand ich sehr vorhersehbar, und »Mums« war mir eine Spur zu abgedreht.

Erwähnen möchte ich noch die Erzählung »Tweets aus dem Zirkus der Toten«, die auf einer netten kleinen Idee basiert und mit dem schriftstellerischen Kunststück aufwartet, den Text aus lauter Tweets bestehen zu lassen. Fazit: Ein gelungener Erzählband von Joe Hill mit viel Licht und nur wenig Schatten.

Joe Hill: Vollgas | Deutsch von Manfred Sanders
Festa Verlag 2021 | 688 Seiten | Jetzt bestellen