»Durch all die Fälle, die er gelöst hat, ist er auch öffentlich bekannt. Vermutlich als einziger Ermittler. Und er gilt als kompromisslos, als ein Mann mit einer Scheißegal-Integrität. Das mag übertrieben sein, aber die Menschen lieben solche Narrative. Bei diesem Image würde wohl kaum der Verdacht aufkommen, dass seine Ermittlungen gekauft und bezahlt sind.«
Der das sagt, ist der Anwalt eines reichen Mannes, der beschuldigt wird, zwei Frauen ermordet zu haben. Und der Ermittler, über den er spricht, ist kein anderer als der suspendierte norwegische Polizeibeamte Harry Hole.
Weil das Buch der erste Krimi ist, den ich aus der mittlerweile 13 Bände umfassenden Reihe um den hiob-mäßig leidenden Ermittler gelesen habe, kenne ich dessen Lebensgeschichte nicht. Aber so geschickt, wie der Spiegel-Bestseller Autor sie in den vorliegenden Teil einfließen lässt, macht er schon Lust darauf, mehr über das furchtbare Schicksal zu erfahren.
Harry Hole – womit wahrscheinlich nicht das englische »Loch« gemeint ist – nimmt den etwas kuriosen, aber hochdotierten Auftrag an, um mit dem Geld eine Frau in den USA aus den Fängen skrupelloser Geldeintreiber zu befreien. In zehn Tagen muss er den Fall gelöst haben, sonst wird sie umgebracht. Eine etwas plumpe und trotz der Dekoration sichtbar konstruierte Dramaturgie, um Tempo in die Story zu bringen. Aber sie funktioniert und schnell hatte ich die ersten 150 Seiten gelesen.
Harry stellt ein Team von skurrilen alten Bekannten zusammen, die Spiegel-Bestseller-Leserinnen -Leser aus den vorigen Bänden wahrscheinlich bestens bekannt sind, um den Fall in der vorgegebenen Zeit zu lösen: Ein Dealer, ein korrupter Polizist und ein Psychiater mit Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium arbeiten gemeinsam, um die Serienmorde aufzuklären.
Kurios ist Holes Auftrag, weil er das Honorar, immerhin fast eine Million Dollar, auch bekommen soll, wenn er herausfindet, dass der reiche Mann wirklich der Täter ist. Das erschließt sich einem nicht wirklich, aber man vergibt es dem Autor, der es meisterhaft versteht, die Handlungsstränge zu verknüpfen und die Story ganz langsam zu entblättern. Allerdings manchmal etwas zu langsam und 100 Seiten weniger hätten dem Krimi sicher gut getan. Hole-Fans sehen das sehr wahrscheinlich ganz anders.
Langsam entspinnt sich eine Geschichte um Rache, so viel sei verraten, und der Verdacht gegen den reichen Mann erhärtet sich immer mehr. Als sich herausstellt, dass er homosexuell ist, was aber unter keinen Umständen bekannt werden soll, führt das Harry in die Schwulenszene von Oslo, und Jo Nesbø schrammelt mit seinen Schilderungen scharf am Vorwurf der Schwulenfeindlichkeit vorbei. In manchen Augen sicher nicht »vorbei«, sondern mitten rein. Aber ein Spiegel-Bestseller-Autor darf das wohl.
Zum Inhalt möchte ich an dieser Stelle nicht sehr viel mehr erzählen, weil das ohne zu spoilern kaum möglich wäre. Nur soviel, da hat der Autor ein riesiges, interessantes, abgefahrenes Thema für einen schnöden Rachefeldzug vergeudet. Echt schade. Und bis zum Schluss frage ich mich, was eigentlich der Titel »Blutmond« mit dem Buch zu tun hat.
Aber damit genug gemeckert. Nesbø ist ein sehr guter Dramaturg und Erzähler. Für einen Krimi hat das Buch außergewöhnliche Qualitäten und macht über weite Strecken wirklich Spaß zu lesen. Spannende, gut gemachte Unterhaltung – was will man mehr?
Jo Nesbø: Blutmond | Deutsch von Günther Frauenlob
Ullstein 2022 | 544 Seiten | Jetzt bestellen