Jo Hedwig Teeuwisse: Fake History - Hartnäckige Mythen aus der Geschichte

Zwar listet Historikerin Jo Hedwig Teeuwisse »101 Dinge, die so nie passiert sind, aber alle für wahr halten« in ihrem programmatisch betitelten Buch »Fake History – Hartnäckige Mythen aus der Geschichte« auf, doch ist die Niederländerin viel zu beflissen, um darin nicht noch viele weitere fehlerhafte, unvollständige, unplausible oder schlichtweg gelogene Fakten von der Antike bis ins Internetzeitalter unterhaltsam und informativ ins Licht der Wahrheit zu rücken. Ein Buch wie ein Krimi, weil Teeuwisse detektivisch zur Sache geht und ihre Ermittlungsschritte und Quellen transparent hält. Mit nur einem Schönheitsfehler: Die Übersetzung ist furchtbar.

Auch als noch so aufgeklärter Lesender findet man sich bei der Lektüre dieses Buches überführt, seinerseits unwahren Mythen aufgesessen zu sein. Das Mittelalter etwa hat sein heutiges Bild aus der viktorianischen Zeit, verrät Teeuwisse, die erklärt, warum Menschen zwischen den Jahren 500 und 1500 nicht unsauber gewesen sein oder schlechte Zähne gehabt haben können, warum man nicht seine Fäkalien einfach auf die Straße kippte (warum sollte es Menschen – anders als noch in der Antike – plötzlich egal sein, ob sie reinlich waren?), warum die Pestmaske kein typisches mittelalterliches Requisit war (sie entstand erst viel später), warum die Eiserne Jungfrau nie zum Einsatz kam (sie ist eine spätere Erfindung, die man dem Mittelalter zuschrieb); und das sind nur ganz wenige Aspekte, an denen die Historikerin rüttelt. Man liest ihre Ausführungen und staunt, wie schlüssig ihre Beweisführung ist und dass man nicht selbst schon darauf kam, Zweifel an manchen Bildern gehabt zu haben. Sie wurden einfach fortwährend als wahr wiederholt.

Doch die Autorin bleibt nicht im Mittelalter verhaftet, auch nicht bei den Viktorianern, denen sie viele falsche Bilder nachweisen kann. Bereits Ägypter und Römer geben viel Material für unwahre Annahmen, von der Antike aus beackert Teeuwisse Epoche um Epoche, über die Französische Revolution, die Tudors und die Nazis bis in die jüngere Vergangenheit und die Gegenwart. Dazu gibt sie zunächst die falsche Annahme aus und widerlegt diese dann; alles unchronologisch, also abwechslungsreich. Bisweilen hat man von manchen falschen Annahmen noch nie gehört, bekommt aber eine mordsspannende Geschichte dazu erzählt.

Zu den jüngeren Geschichte-Geschichten gehört, welchen Einfluss eine US-Brausemarke auf die Farbe des Weihnachtsmannes hat, bestimmte erste Filmküsse, die Erfindung des Begriffs Serienmörder, das erste Selfie, das erste Katzenfoto und so manches mehr. Letztere Beispiele offenbaren, wie Teeuwisse auf die Idee kam, dieses Buch zu verfassen: Sie ist im Internet, in Social Media, aktiv und machte es sich zur Aufgabe, dortige Falschbehauptungen mit Belegen zu widerlegen. So manches Mal weckte ein Verdacht ihr Interesse und sie begann zu forschen, und diese Forschungswege und Rechercheetappen gibt sie den Lesenden in diesem Buch gleich mit preis. So kommt es auch, dass Photoshop als Quelle für Falschbehauptungen in die jüngere Zeit gehört – und dass das Buch mit der Warnung vor KI-Fotos endet.

In ihrer Beweisführung geht Teeuwisse bisweilen zweigleisig vor: Sie nennt einen Fake-Fakt, der beispielsweise auf einem im Netz geteilten Foto basiert, und zerlegt einmal das Foto an sich und zum anderen den damit verbreiteten Fakt. Beispiel: Ein Foto solle die erste schwarze Anwältin der USA zeigen. Teeuwisse recherchiert, wer diese erste schwarze Anwältin in Wahrheit war, und dann, wer tatsächlich auf den Fotos zu sehen ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt in Teeuwisses Arbeit tritt dabei nebenbei zutage: Sie ist quasi antifaschistische, antirassistische, antisexistische Bürgerrechtlerin, was sie abermals auf zwei Beinen ausrichtet, nämlich einerseits der Würdigung von Minderheiten und andererseits der Demaskierung von Verschwörungstheoretikern, die ihre menschenverachtende Argumentation auf wissentlich gestreuten Falschmeldungen fußen lassen. Damit entschlüsselt die Historikerin nicht nur die Wahrheit hinter geschichtlichen Ereignissen, sondern auch die Motive derer, die die Lüge streuen.

Man verschlingt dieses Buch wie einen Krimi. Und das, man muss es leider feststellen, trotz der Sprache. Teeuwisse schreibt bei Twitter – ja, der Rezensent hat trotz allem noch einen Account auf dieser Plattform und weigert sich, den Namen X dafür zu verwenden – auf Englisch und verfasste auch diese Buch nicht in ihrer Muttersprache. Hält man die Übersetzung und ihre Tweets gegeneinander, bekommt man eine Ahnung davon, wie der Originaltext ausgesehen haben und gemeint gewesen sein könnte. Doch auf Deutsch funktioniert es nicht, den Sprachgebrauch einfach zu übersetzen. Hier passiert es nun, dass man den Eindruck bekommt, es mit dem Buch einer US-Amerikanerin zu tun zu haben, die überheblich, selbstgerecht, reißerisch und pseudolustig auf Leute herabblickt, die Falschmeldungen glauben oder Wahrheiten nicht wissen, und das auch noch in einem für eine Faktenpredigerin unspezifischen Tonfall. »Die Leute« behaupten dies, ja, welche Leute denn? »Lassen Sie es mich erklären«, ja, wie sollte man sie auch daran hindern? Und sobald es in sexuelle Themen übergeht, wird die Autorin kicherig ausweichend wie ein Teenager. Liest man dagegen ihre Tweets im Originaltonfall, funktioniert diese Art der Sprache plötzlich. Da hätte der Übersetzer also nicht wortgetreu arbeiten, sondern den gemeinten Inhalt transferieren sollen, ganz so, wie es Harry Rowohlt dereinst nahelegte.

Dazu kommen einige Details, die nicht zur Faktenhuberei passen, die man aber zumeist abermals der Übersetzung anlasten kann. Man spricht etwa nicht mehr von »Glühbirne«, wenn das Leuchtmittel gemeint ist. Auch der Umgang mit den Begriffen Holland und Niederlande ist uneindeutig: Geboren wurde Teeuwisse in Den Haag, das ist die Hauptstadt der Provinz Südholland, aber sie lebt jetzt in Bourtange, das liegt in der Provinz Groningen; alles davon liegt in den Niederlanden, in den Texten jedoch würfelt es sich unklar durcheinander. Der »Kristallpalast« in London wiederum geht eindeutig auf den Übersetzer zurück, ganz auf Teeuwisses Mist hingegen ist der »Apfel« gewachsen, den Eva im Paradiese Adam überreichte, denn davon ist in der Bibel keine Rede, sondern von der unspezifischen Frucht vom Baum der Erkenntnis. Dabei ist gerade dies ein hervorragender Ansatzpunkt für Recherchen, etwa, wann erstmals in diesem Zusammenhang vom Apfel die Rede war. Das wäre etwas für eine Fortsetzung, die Teeuwisse selbst als möglich in Aussicht stellt, indem sie abschließend – wieder so eine US-amerikanische Formulierung – »jede Menge« weitere Beispiele für Falschfakten auflistet und die Lesenden zum Googeln ermuntert.

Wer aus nachvollziehbaren Gründen in Geschichte nicht aufgepasst hat, aber irgendwie Bock hat, einiges an Infos nachzuholen, bekommt mit »Fake History« ein gigantisches Kompendium an hervorragend recherchiertem Wissen dargeboten. Die furchtbare Übersetzung kann man bei der Lektüre mit einiger Mühe sogar ganz gut ignorieren.

Jo Hedwig Teeuwisse: Fake History – Hartnäckige Mythen aus der Geschichte | Deutsch von Ralf Pannowitsch
Heyne 2023 | 433 Seiten | Jetzt bestellen