Jens Jessen: Im falschen BettMünchen zeigte sich gänzlich ungerührt von den welthistorischen Ereignissen, die dem Fall der Mauer gefolgt waren. München kannte keine Hauptnachrichten, München war eine Vorabendserie, einschließlich der Werbepausen. In ihrem trunkenen Konsum bot die Stadt die denkbar größte Entlastung bei unseriösen Vorhaben.

Der Erzähler von »Im falschen Bett« beobachtet als Student und Praktikant beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen im München am Ende des 20. Jahrhunderts eine Affäre zwischen einem Produzenten (von allen nur »der Bonze« genannt) und einer jungen Frau, Christina, die für eine Sendung über skandalös unterbezahlte Berufsanfänger gecastet wurde. Dabei geht es dem Erzähler weniger darum, herauszufinden oder zu schildern, was wirklich geschehen ist, sondern um die Lust am Ausdenken, Spekulieren, Gruseln und Austausch und Klatsch mit anderen Beobachtern und Bekannten des Paares: allen voran mit Christinas Bruder, der mit dem Erzähler eine WG teilt, mit Christinas Freundin und mit der Dauergeliebten des Produzenten.

Das Bizarre an der Affäre ist, dass sie nicht von Leidenschaft oder Gefühlen getrieben zu sein scheint, sondern mehr von einem ungeschriebenen Drehbuch. Beide Beteiligten handeln so, wie sie sich einbilden, dass sie zwangsläufig handeln müssten – aufgrund von Präzedenzfällen und der Erwartungen der Zuschauer. Zumindest erscheint es aus Sicht der Beobachter so, die der Affäre eine Struktur geben, die der typischen Dramaturgie einer Fernsehserie entspricht. Gegen die Kraft der Gedanken, der Vorstellung und der eingenommenen Perspektive ist die Realität dabei ziemlich machtlos. Dabei entwirft der Erzähler durch eine unglaublich bildkräftige und symbolreiche Sprache ein unterhaltsames, satirisches Bild der Münchner Gesellschaft und des Fernsehens, behauptet aber am Ende, dass sein München auch das Bild einer vollkommen fiktiven Stadt sein könnte, für die er sich nur den Namen geliehen hat.

Durch einen Todesfall in der WG bekommt der Erzähler eine Ahnung von einem sogenannten »zweiten« München, in dem zur Belustigung der Wohlhabenden und Mächtigen aus dem »ersten« München Tiere, Obdachlose und junge Frauen auf Partys mit »Eventcharakter« gefoltert und teilweise getötet werden. Die zuständige Polizistin, Mutter der Dauergeliebten des Produzenten, stößt jedoch bei ihren Ermittlungen auf eine »Mauer des Schweigens« und eine »Halbwelt von Mode, Film und Herrenmagazinen«, die »Verbindungen bis in die High Society« unterhält.

Der Erzähler ist fasziniert, weniger vom Inhalt als vom Begriff des »zweiten« Münchens. Er will keine grausamen Details wissen, sondern verschließt die Augen davor. Der mächtige Produzent kommt schließlich nur zu Fall, weil ein Oberkirchenrat inoffizielle Gegengeschäfte zwischen der Produktionsfirma des Fernsehsenders und Werbekunden wie Modemagazinen aufdeckt, und nicht, weil er wahrscheinlich Gastgeber solcher Partys ist.

Der Roman wirft unheimliche, scharfsinnige und unaufdringliche Parallelen auf zwischen der in ihm geschilderten Gesellschaft, dem Unterhaltungsfernsehen und der deutschen Geschichte. Er legt nahe, dass die Masse der Zuschauer, sichtbar an der Quote von Fernsehsendungen, eine Unterhaltung zu sehen wünscht, die von Grausamkeit geprägt ist. Das Publikum gruselt sich mit Lust, ignoriert aber willentlich, dass hinter dem, was sie im Fernsehen sehen, worüber in der Presse spekuliert wird oder was sie erahnen können, möglicherweise wirkliche Grausamkeiten stattfinden – geschweige denn, dass jemand bereit wäre, etwas dagegen zu unternehmen.

Jens Jessen: Im falschen Bett | Deutsch
Hanser 2012 | 224 Seiten | Jetzt bestellen