Jay Dobyns, Nils Johnson-Shelton: No AngelWhether I agreed with him or not didn’t matter. We may have been dedicated to different things, but it was the dedication itself that mattered most.

Wenn sich ein Polizist als Undercover-Agent bei den Hells Angels einschleicht, fast zwei Jahre als einer von ihnen lebt und beinahe als vollwertiges Mitglied aufgenommen wird – und das Ganze dann auch noch überlebt, so dass er davon erzählen kann – ist das an sich schon eine extrem spannende, faszinierende und gruselige Geschichte. Bei seinem Versuch, das Vertrauen der Hells Angels zu gewinnen, um Beweise für ihre Kriminalität zu sammeln, gerät Jay Dobyns fast auf jeder Seite des Buchs in eine neue brenzlige Situation. Mal schwebt er in schlichter Lebensgefahr, weil seine Tarnung jeden Moment auffliegen könnte, manchmal aber auf andere Art am Abgrund: zum Beispiel, als er Gefahr läuft, auf Befehl der Hells Angels seine Undercover-Kollegin JJ, die sich als seine Freundin ausgibt, verprügeln zu müssen, weil sie das Essen zu spät bringt; oder als ihm ein Hells Angels anbietet, Sex mit dessen minderjähriger Tochter zu haben – und die Mutter, die daneben steht und mithört, angestrengt lächelt:

I was being offered the flesh of a minor – and that of her friend – by her own father. I didn’t know whether to laugh or simply assault the Hellands. In retrospect, I think they were offered to me because, while I was a biker and a debt collector and a gun runner and a supposed hit man, I had my act together, wasn’t a drug addict, and treated myself and others with some measure of respect. In the biker world I was a catch.
Sad.

Dobyns Geschichte ist aber nicht nur wegen der Spannung und der Exotik der Welt der Hells Angels faszinierend, sondern vor allem, weil seine Haltung zu den Hells Angels im Laufe der zwei Jahre immer ambivalenter wird. Schon früh stellt er fest, dass es sich toll anfühlt, einer von ihnen zu sein und Respekt und Macht zu genießen, wo immer man aufkreuzt. Dobyns identifiziert sich so sehr mit seiner Rolle und steht so sehr unter Strom, dass er nach einiger Zeit Schwierigkeiten hat, aus seinem Biker-Alter Ego zu schlüpfen und sein »altes Selbst« zu sein, wenn er seine Frau und seine beiden Kinder besucht. Die Hells Angels sind ihm sympathisch, er gewinnt sie lieb und hängt bald lieber mit ihnen herum als mit Freunden und Familie, denn viele ihrer Eigenschaften bewundert er – oder würde es zumindest in einem anderen Kontext tun:

Again, I was perversely touched. I knew Danza would probably be going back to jail because of me, and society would certainly benefit, but a small part of me wished he weren’t. I knew that if circumstances had been different – if we’d been in a foxhole together or had to parachute out of an airplane over enemy territory – Danza was a guy I’d want at my side.

Während Dobyns die guten Seiten der Hells Angels entdeckt und seine eigene dunkle, muss er sich immer öfter daran erinnern, auf welcher Seite er eigentlich steht und was Ziel, Sinn und Zweck seines Zusammenseins mit den Hells Angels ist. Dobyns geht es ein bisschen wie einem Westernheld, der gegen die Indianer kämpft und dabei plötzlich feststellt, dass er seine Gegner eigentlich bewundernswerter findet als die Regierung, in deren Auftrag er handelt. Von Zeit zu Zeit wird der Unterschied zwischen den vorgetäuschten Verbrechen der Undercover-Agenten und den echten der Hells Angels verschwindend gering. Unterstrichen wird die Ambivalenz auch dadurch, dass einer der Hells Angels, den die Trägheit und der Geschäftssinn der etablierten Älteren in der Motorrad-Gang ärgern, am Ende zur Polizei überläuft, weil er sie für die härteren Jungs hält.

Am Ende stellen sich die ganzen Risiken und der Aufwand tatsächlich als fast umsonst heraus: Die meisten Beweise sind nutzlos, die Hells Angels bleiben weitgehend straffrei – ein schwerer Schlag für Dobyns, für den lange Zeit Resultate das einzige sind, was im Leben zählt. Dobyns fühlt sich von seinem Arbeitgeber im Stich gelassen, der die Morddrohungen gegen ihn und seine Familie nicht ernst nehmen will. Wie schon so oft stellt sich auch hier die Frage, welche nun die gute und welche die schlechte Seite ist und ob sie sich wirklich so sehr unterscheiden. Die Welt der Undercover-Polizisten ist zum Beispiel, genau wie die der Hells Angels, eine Männerwelt, nur gibt die eine Seite es nur ungern zu, wie JJ erfahren muss:

Her superiors and more experienced co-workers had been warning her not to go with me, who had a reputation for wild impulsiveness, into the violent, misogynistic world of the Hells Angels. Her reply was that at least the Angels wore their sexism on their sleeves. JJ’s bosses didn’t much like that.

Was Dobyns an seiner Arbeit als Undercover-Polizist seit jeher fasziniert hat, ist die Gefahr, die Nähe zum Tod, die seinem Leben seine besondere Intensität verleiht. Er will wie ein Held leben und sterben, für welche Seite ist oft zweitrangig. Er fühlt sich bei den Hells Angels unter anderem auch deshalb wie zu Hause, denn bei ihnen ist ein Ausbruch tödlicher Gewalt nie weit weg. In Dobyns Beschreibung kommen die Hells Angels teilweise wie Kinder rüber, die einen Haufen komplizierte, oft lächerlich anmutende Regeln aufgestellt haben, damit sie spielen können – nur dass ihre Waffen echt sind. Er vermutet, dass die meisten sich den Hells Angels anschließen, weil sie als Verlierer der normalen Gesellschaft nirgendwo eine vergleichbare Anerkennung finden können. Treffend beschreibt er ihre inneren Widersprüche: individualistische Nonkonformisten, die alle gleich aussehen; Gesetzeslose, die sich einem denkbar strengen Code unterwerfen; ein Geheimbund, der zum Exhibitionismus neigt.

Humor im Angesicht des Todes und eine Menge Situationskomik machen die Lektüre von »No Angel« überraschend amüsant, zum Beispiel als Dobyns den Begriff »BYOG«-Party prägt (für »bring your own gun«), oder als die Hells Angels am Ende ausgerechnet aus Angst vor Kritik ihrer europäischen Brüder zögern, ihn als vollwertiges Mitglied aufzunehmen, wobei doch laut Dobyns Theorie Motorradgangs die einzige, original amerikanische Form von organisierter Kriminalität sind und die Amis normalerweise nie Wert darauf legen was Europa von ihnen denkt. (Deutschland ist laut Dobyns übrigens das einzige Land, das mehr Hells Angels Mitglieder hat als die USA.)

Und dann sind da noch die herrlichen Telefonnachrichten von Dobyns Frau Gwen (Are you alive? For most wives I know this is a rhetorical question, but in our case…), die zusammen mit Sohn Jack und Tochter Dale ihren Mann daran erinnert, dass der Unterschied zwischen gut und böse und falsch und richtig im Prinzip ganz einfach ist:

Jack’s fight was about him standing up for a mentally retarded girl with glasses. So in spite of the fact that his father is pretending to be a criminal, you must have done something right.

Jay Dobyns, Nils Johnson-Shelton: No Angel:
My Harrowing Undercover Journey to the Inner Circle of the Hells Angels
| Englisch
Crown 2009 | 352 Seiten | Jetzt bestellen