Schon zwei Jahre vor der Fertigstellung der ersten Wohnung war praktisch das ganze Quartier verkauft oder vermietet. Besonders junge Familien rissen sich um die bezahlbaren Häuschen, auch wenn sie anschließend zunächst Mühe hatten, von dort zur Arbeit zu gelangen, weil die S-Bahn-Haltestelle »Weberhöhe« einfach nicht fertig wurde. Doch schließlich konnte in einem feierlichen Festakt der Bürgermeister den Bahnhof eröffnen, und er ließ es sich nicht nehmen, in seiner Ansprache auf dem Rupert-Baptist-Weber-Platz noch einmal darauf hinzuweisen, dass es eben jener Weber gewesen sei, der diesem Ort eine Aura verliehen habe, eine Duftnote, wie man wohl heute sage, die ganze Generationen überdauere und nun in dieser wundervollen Architektur wiederum zum Tragen komme.
Das Buch beginnt mit der hinreißenden Entstehungsgeschichte des Tatorts. Der Besitzer einer Waffenfabrik im Dritten Reich ist ein fanatischer Nazi, doch durch eine Reihe von Zufällen wird er zum Widerstandskämpfer umgedeutet. Deshalb entsteht auf dem ehemaligen Fabrikgelände eine multikulturelle Wohnsiedlung.
Kommissar Martin Kühn wohnt dort mit seiner Familie und der Tatort seines neuen Falls befindet sich nur 30 Meter hinter seinem Gartenzaun. Ein alter Mann wurde durch mehrere Messerschnitte zum Verbluten gebracht. Gleichzeitig ist ein kleines Mädchen aus der Siedlung verschwunden, Kühns Sohn sympathisiert mit dem lokalen Neo-Nazi-Verein und seine Tochter möchte ein teures Pony zum Geburtstag. Es gibt also viel zu tun für Kühn.
Ich habe schon viele Werke von Jan Weiler gelesen bzw. gehört. Manche davon waren einfach grandios, andere etwas schwächer, aber selbst diese waren immer noch sehr gut, weshalb ich bei seinen Neuerscheinungen bedenkenlos zugreife.
»Kühn hat zu tun« ist in erster Linie ein Kriminalroman, aber die Tücken des Alltagslebens, auf die in Weilers übrigem Werk sein Hauptaugenmerk liegt, spielen auch hier eine große Rolle und sind die große Stärke des Romans. Gerade weil der Kriminalfall so oft mit Kühns Privatleben kollidiert.
Im Gegensatz zu so vielen Kriminalromanen, in denen Sozialkritik, Privatleben oder psychische Probleme des Protagonisten wie nachträglich hinzugefügt und eher störend wirken, greift hier alles ineinander und bildet eine Einheit. Man leidet und freut sich mit der Hauptfigur, taucht völlig ein in ihr Leben und ihre Sorgen. Der Leser erlebt Martin Kühn als einen Polizisten, der in seinem Job souverän und manchmal nahezu genial ist, aber im Privatleben oft genauso ratlos den Dingen gegenübersteht, wie jeder andere von uns auch.
Doch dann, kurz vor Schluss, oder bei diesem Hörbuch auf der letzten CD, kommt die Auflösung des Kriminalfalls. Obwohl sie völlig belanglos und klischeehaft ist, möchte ich sie natürlich trotzdem nicht verraten. Wer in seinem ganzen Leben noch keinen Krimi gelesen hat und auch beim Tatort immer wegzappt, denjenigen könnte das Folgende wirklich begeistern. Aber auch nur denjenigen. Als wäre das nicht schlimm genug, werden anschließend alle Probleme Kühns, die sich bis dahin so dramatisch aufgehäuft haben, in einem Tempo gelöst, wie bei einer zwanzigminütigen Sitcom-Folge. Kaum ist man bereit, das süßliche Ende in Kauf zu nehmen, kommt in den letzten zwei Sätzen dann noch eine Kehrtwendung. Doch die interessierte mich zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr.
Ich empfehle das Hörbuch trotzdem, denn die ersten 80% sind einfach hervorragend. Spannend, unterhaltsam und sehr gut vom Autor persönlich gelesen. Eine tolle Geschichte mit einem enttäuschenden Schlussakt.
Jan Weiler: Kühn hat zu tun | Audiobook
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