Man hatte ihn vor wenigen Minuten angerufen und zu einem Tatort bestellt. Er rechnete aus, dass er mit den Öffentlichen ungefähr eine Dreiviertelstunde brauchen würde. Dann würde er vor einem Leichnam stehen, den sein Kollege Steierer am Telefon als »furchtbar zugerichtet« bezeichnet hatte.
Sobald man wusste, wer die Leiche war, würde man damit beginnen, ihre letzten Tage und Stunden zu rekonstruieren. Kühn dachte oft, dass man viele Verbrechen verhindern könnte, wenn die Opfer schon vor der Tat identifiziert würden. Wenn man sich vorher schon mit ihnen beschäftigen würde und nicht erst hinterher. Er war überzeugt davon, dass es nicht nur bestimmte Dispositionen gab, die Täter zu Tätern machte, sondern dass auch Opfer in gewisser Weise zum Opfersein bestimmt waren. Er betrachtete sich im Spiegel und sann darüber nach, ob er in seinem Leben eher Opfer oder Täter war.
Ich schätze zwei Arten von Büchern. Die einen sind wunderbar komponiert, mit geschliffenen Sätzen und originellen Formulierungen, sodass man die Machart analysieren und bewundern kann. Die anderen erzählen eine Geschichte, in der man sich verliert und vollkommen vergisst, dass sich jemand die Handlung ausgedacht hat. »Kühn hat Ärger« gehört zur zweiten Art.
Das Buch beginnt damit, dass Hauptkommissar Martin Kühn zum Fundort einer Leiche gerufen wird. Dann wechselt die Szenerie: Der Leser begleitet einen kleinkriminellen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, der sich in ein Mädchen aus gutem Hause verliebt. Ihre Familie nimmt ihn auf, und die Liebe wandelt ihn zu einem besseren Menschen. Er wird von seiner neuen Umgebung akzeptiert und engagiert sich erfolgreich in der Schule.
Und in diesem Teil zeigt sich sofort die Qualität des Romans: Was wie ein Märchen mit pädagogischem Zeigefinger klingt, kommt als überzeugende Geschichte daher. Man fiebert mit den glaubwürdigen Figuren und sorgt sich um ihr weiteres Schicksal. Allein die Frage, bei wem es sich um die gefundene Leiche handelt, lässt einen nicht zur Ruhe kommen, denn man wünscht es keiner der eingeführten Personen.
In dem Roman werden die unterschiedlichen Milieus sehr genau geschildert, teilweise auch überspitzt gezeigt, ohne jedoch zur Karikatur zu verkommen: Die wohlsituierte Anwaltsfamilie, die alleinerziehende Mutter in den Wohnblockghettos und die Mittelschicht auf der Weberhöhe, hier vertreten durch Hauptkommissar Kühn, den neben seinem Mordfall auch noch sehr private Probleme beschäftigten. Sie alle werden mit ihren Stärken und Schwächen dargestellt. Man sieht ihre edlen Taten genauso wie ihre dummen und auch verabscheuungswürdigen. Alle Handlungen sind verständlich und nachvollziehbar, einige reizen zum Lachen, andere zum Ärgern oder Fremdschämen. Genau das macht die Figuren in diesem Buch – und damit auch das gesamte Buch – so menschlich.
»Kühn hat Ärger« ist wirklich perfekt gemachte Unterhaltung.
Jan Weiler ist ein ebenso versierter Sprecher wie Autor. Er stellt sich vollkommen in den Dienst der Geschichte und liest in einer unaufgeregten und professionellen Art, die den Zuhörer vollkommen einnimmt. So sehr, dass man auf der Fahrt in den Urlaub aufpassen muss, wegen des Hörbuchs nicht an seinem Ziel vorbeizufahren.
Jan Weiler: Kühn hat Ärger | Deutsch
Gelesen von Jan Weiler | Dauer: 11 Std. und 13 Min.
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