Jan Weiler: DrachensaatDie meisten Menschen würden sagen, man hört es nicht. Sie glauben, es ginge einfach zu schnell. Man setzt die Mündung an seine Schläfe, drückt ab, und dann dauert es nicht einmal eine tausendstel Sekunde, bis das Projektil im Schädel ankommt. Der Schall dringt langsamer ins Ohr als die Kugel in den Kopf. Und danach ist ja sowieso Ruhe. Mag sein, dass das Trommelfell platzt, aber gleichzeitig fliegt das Hirn durchs Zimmer. Du wirst ganz sicher nicht mehr zum Ohrenarzt gehen. Jedenfalls sind die meisten Leute der Ansicht, man könne den Knall nicht hören. Das stimmt aber nicht. Ich habe ihn gehört.

Ein Architekt, der versucht hat, sich während einer Wagner-Aufführung in Bayreuth zu erschießen und fortan als politischer Attentäter gilt, weil sich der Innenminister im Publikum befand. Ein Busfahrer, der seinen Linienbus mit 41 Fahrgästen entführt hat und immer weiter gefahren ist, bis ihm das Benzin ausging. Ein Briefträger, der 3,4 Tonnen Post unterschlagen hat, um sie in seiner Wohnung zu archivieren. Ein Mann, der neun Jahre mit der Leiche seiner Mutter zusammengelebt hat. Eine Frau, die im Internet für ihre Fettleibigkeit berühmt geworden ist und plötzlich entdeckt hat, dass sie in ihrem Kopf Radiofrequenzen empfangen – und essen kann.

Diese exzentrische Truppe lädt der Therapeut Dr. Zens in sein Sanatorium Haus Unruh im Schwarzwald, um sie von einer neuen Zivilisationskrankheit zu heilen, die er entdeckt und nach sich selbst benannt hat. Die ersten Therapiemaßnahmen sind noch verhältnismäßig harmlos und beziehen sich auf die jeweiligen Probleme der Patienten. Doch schon als nächstes sieht Dr. Zens vor, den berüchtigten Bankmanager Dr. Martin Barghausen zu entführen und ihn in einer TV-Sendung wegen der wachsenden sozialen Ungerechtigkeit zur Rede zu stellen. Die Ausstrahlung wird bei einem Privatsender erzwungen – gegen äußerst geringen Widerstand – und erzielt traumhafte Einschaltquoten. Barghausen schildert seine Sicht der Zustände im Land und entpuppt sich nicht als der skrupelose Manager, den alle erwartet haben.

Dieses Buch hat sich sehr für die Umsetzung als Hörspiel geeignet und es wurde aus dem Vollen geschöpft. Die Sprecher sind ausnahmslos hervorragend, selbst kleinste Nebenrollen wurden ausgezeichnet besetzt: Der herrlich hilflose Polizeisprecher, der sich bemüht, hochdeutsch zu reden, die gespielte Betroffenheit der Nachrichtensprecher, die Merkel-Imitatorin, der Single-Hit a la Stefan Raab usw.

Dazu gibt es schöne akustische Gimmicks, wie Jingles und ironische Musikeinspielungen. Im letzten Teil der Geschichte wird ein Sammelsurium aus Onlineartikeln, Fernsehsendungen und Zeitungsberichten von BILD, Bunte bis Cosmopolitan eingespielt und Weiler trifft den Tonfall des jeweiligen Mediums punktgenau und brüllend komisch. Er zeigt aber auch, wie ein ernsthaftes Anliegen in einer medialisierten Welt der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Und zwar – im Gegensatz zur Realität – sehr kurzweilig und extrem unterhaltsam.

Jan Weiler: Drachensaat | Hörspiel
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