James Joyce: UlyssesIf Ulysses isn’t fit to read, life isn’t fit to live.

Das soll James Joyce laut seinem Biograph auf die Kritik seiner Tante entgegnet haben, dass »Ulysses« unlesbar wäre. Mag sein, dass manche Leben tatsächlich besser nicht gelebt werden sollten, aber »Ulysses« ist durchaus lesbar. Man muss nur verstehen, wie der Roman funktioniert, dann ist ihn zu lesen ein bisschen wie ein anspruchsvolles Kreuzworträtsel lösen.

Dazu braucht man viel Zeit oder eine Anleitung, die einem die Regeln erklärt, ähnlich wie wenn man ein Cryptic Crossword oder ein Sudoku-Rätsel lösen will – hat man das Prinzip verstanden, nach dem diese Rätsel aufgebaut sind, ist es relativ einfach; ohne einen Einblick in die Regeln ergibt das, was auf der Seite steht, nicht viel Sinn.

Wie also funktioniert »Ulysses«? Der Text bildet hauptsächlich die Gedanken der zwei Hauptfiguren ab, und zwar auf eine scheinbar ungefilterte Weise, das heißt, ohne einen Erzähler, der erklärt oder vermittelt – wie echte Leute denken eben. Beobachtet man einmal seine eigenen Gedankenströme, wie sie hin und her springen und auf äußere Reize reagieren, würde man auch nicht von einem Außenstehenden erwarten, dass er da mitkommt.

Ganz so schlimm ist es bei »Ulysses« dann doch nicht. Man muss nur höllisch aufpassen, wer gerade denkt und was außen um diese Figur herum vorgeht, also was die Gedanken beeinflusst. Hat man das einmal raus – am besten mit Hilfe von Harry Blamires‘ »New Bloomsday Book: A Guide Through Ulysses« – kann man das Buch unendlich oft lesen und man wird trotzdem jedes Mal neue Bedeutungen entdecken und ein bisschen mehr verstehen.

Dann kann man sich auch, wenn man Lust hat, mit den ganzen symbolischen Ebenen und den Anspielungen auf Literatur, Mythologie und Geschichte auseinandersetzen, wovon Joyce genug eingebaut hat. Oder man kann bewundern, wie Joyce es geschafft hat, auf den gut 650 Seiten einzelne Wörter strategisch genau so zu verteilen, dass sie an ihrer Position und in Beziehung zu den restlichen Wörtern mehr als ihre erste, offensichtliche Bedeutung entfalten – und wie er dabei den Überblick behalten hat. Hat man einmal angefangen zu suchen, entdeckt man unendlich viele Querverbindungen und kein Wort bedeutet nur, was es normalerweise bedeuten würde.

Durch die direkte Teilnahme an den Gedanken der beiden Hauptfiguren kommen sie einem nahe, die sprachlichen und formellen Spielereien schaffen aber auch wieder Distanz.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Da ist Stephen, ein aufstrebender, noch erfolgloser, junger, irischer Schriftsteller, der eigentlich schon nach England ausgewandert war, aber wegen Geldmangel und weil seine Mutter gestorben ist, nach Dublin zurückkehrt. Im Laufe des einen Tages, an dem das Buch spielt, betrinkt er sich zusehends. Er hadert mit sich, mit dem irischen Schriftsteller-Establishment, mit der irischen Politik und natürlich der katholischen Kirche.

Klingt erstmal ganz sympathisch, aber er gibt zum Beispiel das Geld, das er mit Englischunterricht verdient, lieber dafür aus, seine Bekannten zum Trinken einzuladen als seiner kleinen Schwester zu helfen, nach dem Tod der Mutter irgendwie die jüngeren Geschwister zu ernähren. Mehrmals an diesem Tag begegnet Stephen zufällig Leopold Bloom, der ihn nachts nach einem Bordellbesuch dann schließlich mit zu sich nach Hause nimmt und ihm einen Kakao macht.

Leopold Bloom durchlebt einen relativ normalen Arbeitstag: Er verkauft Anzeigen für eine Tageszeitung. Er ist Jude und schon allein dadurch immer ein bisschen ein Außenseiter in seiner Gesellschaft, ähnlich wie Stephen. Ihn beschäftigt vor allem, dass seine Frau ihn an diesem Tag gegen 16 Uhr mit ihrem Gesangspartner betrügen wird. Dabei hat er selbst eine Brief-Affäre mit einer anderen Frau. Die Zeit ist der 16. Juni 1904. Am Ende verlässt Stephen Irland wieder und Leopold kehrt zu seiner Frau ins Bett zurück, deren Gedanken das letzte Kapitel füllen.

Es lohnt sich, »Ulysses« zu lesen, vor allem wenn man Irland-Fan ist, aber nur wenn man genügend Zeit und Muße hat, sich ein bisschen ausführlicher damit zu beschäftigen. Danach kommen einem jedenfalls alle anderen Bücher leicht vor – außer vielleicht »Infinite Jest« von David Foster Wallace.

James Joyce: Ulysses | Englisch
Random House 1992 | 784 Seiten | Nur noch antiquarisch erhältlich