Wilbrook ist eine kleine Stadt im australischen Outback. Hier sorgt Police Sergeant Chandler mit seinem Team für Ruhe und Ordnung. Was keine schwierige Aufgabe darstellt, da dort ohnehin nie etwas Aufregendes geschieht. Doch eines Tages erscheint ein junger Mann namens Gabriel auf dem Revier. Er ist blutüberströmt und berichtet, dass er gerade einem Serienmörder namens Heath entkommen sei. Chandler bringt den Fremden sicher in einem Hotel unter und macht sich dann auf die Suche nach dem Killer. Doch da erscheint auf dem Revier ein weiterer Mann in ähnlichen Zustand. Er nennt sich Heath und erzählt, einem Serienmörder namens Gabriel entkommen zu sein …
Der ruhige Polizeiposten ist einer solchen Aufgabe nicht gewachsen. Das findet zumindest Mitch, der ehemalige Kollege von Chandler, der aufgestiegen ist und nun mit seiner Truppe samt High-Tech-Ausrüstung angereist kommt, um den Fall zu übernehmen. Er quartiert sich in Chandlers Büro ein und putzt ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit runter, um seine Überlegenheit zu demonstrieren.
Ich habe schon länger keinen Thriller mehr gelesen, der mir von Anfang bis Ende solchen Spaß bereitete: Beide Verdächtige erzählen dieselbe Geschichte, nur mit vertauschten Rollen. Als Leser steht man der Situation genauso ratlos gegenüber wie die ermittelnden Polizisten. Eine originelle Idee, die den Leser bis zuletzt auf die Folter spannt, und gut gezeichnete Figuren, die zwar nur knapp beschrieben werden, aber absolut ausreichend, um in dieser Geschichte zu funktionieren.
Der Stil ist flüssig und das ist auch gut so, denn man kann gar nicht so schnell lesen, wie man weiterblättern möchte, um zu erfahren, was als nächstes geschieht. Der Begriff Pageturner findet hier wahrhaftig seine Entsprechung. Die Rückblenden erwecken anfangs den Eindruck, als dienten sie nur dazu, den Konflikt zwischen Mitch und Chandler näher zu beleuchten. Eine zusätzliche Dramatik, die der Roman eigentlich nicht nötig hat und die nur das Tempo bremsen. Aber die damaligen Ereignisse haben (natürlich) mit den aktuellen Geschehnissen zu tun.
Das Ende des Romans folgt zwar zu sehr gängigen Krimikonventionen und die Motivation des Mörders ist lächerlich (aber da er ein verrückter Serienkiller ist, darf man wohl nicht zu hohe Ansprüche an Vernunft und Logik bei ihm stellen), doch das schmälert das Vergnügen nicht. »55« bedient gleich mehrere meiner Krimi-Vorlieben: Ein begrenzter Handlungsraum mit überschaubarem Personal, ein rätselhafter Einstieg, der den Leser lange um Ungewissen lässt und zahlreiche Wendungen, die aber nicht zum Selbstzweck werden.
Die beschauliche Polizeiwache hebt sich erfrischend von all den genialen Detektiven und knallharten Cops ab, die die Kriminalliteratur bevölkern. Hier werden ganz normale Polizisten, die ihren Job so gut wie möglich machen wollen, mit einem überlegenen Gegner konfrontiert. Chandler Jenkins erinnert dabei an den Bruno aus Martin Walkers Krimireihe (ohne das Kochen) und an die Titelfigur der Serie »Longmire«. Ein unaufgeregter Held, der seine Arbeit ernst nimmt und seine Ruhe schätzt.
Seine Mitarbeiter bleiben in diesem Buch noch recht blass, besitzen aber einiges Potential. Ich könnte mir vorstellen, dass »55« der Auftakt einer Serie um dieses Polizeirevier im Outback ist. Und ich muss sagen, die Vorstellung gefällt mir. Ich wäre dabei. »55« bietet spannende und originelle Unterhaltung bis zu den allerletzten Zeilen, und die haben mir einen gehörigen Kloß im Hals verursacht. Ein großartiges Thriller-Debüt.
James Delargy: 55 – Jedes Opfer zählt | Deutsch von Alexander Wagner
Heyne 2020 | 416 Seiten | Jetzt bestellen