Ingrid Noll: GoldschatzIn unserem Freundeskreis wollte man bewusst gegen den Mainstream schwimmen und auf übertrieben Konsum sowie trendige Kleidung verzichten. Bei Smartphone, Computer und Auto wollten wir uns – auch aus finanziellen Gründen – mit Secondhandware begnügen, was zugegebenermaßen meistens nicht klappte …

Die Verführungen des Kommerzes sind allgegenwärtig. Kann man seinen Verlockungen überhaupt widerstehen? In ihrem aktuellen Roman »Goldschatz« setzt sich die erfolgreiche Krimi-Autorin Ingrid Noll mit dieser Frage auseinander. Zugegeben, die für sie typischen mordenden Frauen fehlen in diesem Buch.

Im Mittelpunkt steht die Studentin und Ich-Erzählerin Beatrix, Trixi genannt. Deren Mutter hat von ihrer Tante ein altes Bauernhaus auf dem Land geerbt. Da Trixis Eltern kein Interesse an der Nutzung haben und die Sanierung für unwirtschaftlich halten, will sie in dem heruntergekommenen Gehöft mit Geistesverwandten nachhaltig, ohne Komfort und Konsum leben. Die Devise lautet »Gegenstrom« und setzt Dinge wie das neueste iPhone oder angesagte Kleidung auf den Index. Neben Trixis Freund Henry finden sich drei weitere WG-taugliche und mehr oder minder handwerklich talentierte Mitbewohner mit unterschiedlichen Charakteren.

Die fünf jungen Idealisten gelangen schnell an ihre Grenzen. Das alte Gemäuer ist kalt, die Aufräum- und Instandsetzungsarbeiten in Haus und Hof gestalten sich anstrengend und zeitaufwändig. Unerwartete Tücken der baulichen Gegebenheiten schütteln die hehren Pläne der »Kommune 2.0« ebenso kräftig durcheinander wie eigene Schwächen und Interessen. Ein Königreich für einen Kühlschrank oder eine Waschmaschine!

Hinzu kommt das eigenartige Verhalten des alten, kauzigen Nachbarn Gerhard Gläser. Mit seiner ehemaligen Nachbarin Emma verband ihn eine langjährige Freundschaft. Deshalb hat er immer noch einen Schlüssel zum Haus. Was führt er im Schilde? Rätselhafte Knochenfunde im Gemüsegarten befeuern Gerüchte und Fantasien. Denn ganz ohne Mord geht es bei Ingrid Noll doch nicht.

Dieses Mal liegt das Verbrechen lange zurück. Die damalige Besitzerin des Hauses und ihre Freundin bringen den als Deserteur aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrten Ehemann der Freundin um. Sie eignen sich seinen Goldschatz an, den er von einer schlesischen Bauersfrau geraubt hatte. Das Säckchen mit den Goldmünzen, das Trixi und ihre Freundin Saskia nun finden, weicht die guten Vorsätze der Wohngemeinschaft weiter auf und sorgt so für reichlich Konfliktpotenzial.

Ingrid Nolls flüssige und unterhaltsame Erzählweise zieht den Leser schnell in das Geschehen. Nachvollziehbar entwickelt die Autorin ihre Charaktere und beschreibt den Wandel ihres Gewissens. Man spürt, wie die anfänglich freundschaftliche Atmosphäre von Missgunst, Intrigen und Boshaftigkeit nach und nach unterwandert wird. Bequemlichkeit schleicht sich ein, ein Selbstmord kann nur knapp verhindert werden. Das Projekt »Gegenstrom« endet unausweichlich in einer Katastrophe.

Ingrid Noll lässt Milde mit ihren Figuren walten. »Vielleicht waren wir noch nicht reif für eine WG …«, lässt sie Trixis Freund Henry resümieren. Die schlaue Trixi steht zum Schluss allein vor der Entscheidung, ihre akademische Laufbahn fortzusetzen oder doch dem Kommerz zu frönen.

Ingrid Noll: Goldschatz | Deutsch
Diogenes 2019 | 368 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen