Am 5. September 2005 besuchten wir den Norddeutschen Rundfunk (NDR) in Hamburg, um eine der größten Hörspielproduktionen in der Sendergeschichte in Augenschein zu nehmen: »Wassermusik« nach dem gleichnamigen Roman von T.C. Boyle. In den Studioräumen führten wir ein ausführliches Interview mit Regisseur Leonhard Koppelmann.
Herr Koppelmann, ein Roman von T.C. Boyle als Hörspiel zu vertonen liegt angesichts der wachsenden Popularität des amerikanischen Schriftstellers nahe. Aber warum ausgerechnet »Wassermusik«? Wer hatte die Idee dazu? Wie kam das Projekt zustande?
»Wassermusik« ist ein lange gehegter Produktionswunsch von mir. Richtig angefangen mit dem Hörspiel habe ich in den Jahren 1996/1997, und gleich 1998 kam mir die Idee, »Wassermusik« als Hörspiel zu verwirklichen. Ich hatte das Buch damals gerade frisch gelesen, und die fabulierende Erzählkunst Boyles animierte mich auf Anhieb zum Wiedererzählen. Zumindest war seitdem der Wunsch da, sich diesem Roman zu widmen. Der Reiz war einfach sehr groß. Es sind also persönliche Gründe, die mich konkret dieses Buch haben auswählen lassen. Warum es nicht gleich geklappt hat? Das lag daran, dass es noch andere Hörspielwünsche gab und»Wassermusik« zeitweise für die Dramatisierung gesperrt war. Durch nachhaltiges Nachfragen wurde die Realisierung des Projektes dann aber doch möglich. Deshalb haben wir mit »Wassermusik« angefangen und nicht mit »Dr. Sex«, was als jüngstes und populärstes Werk Boyles wahrscheinlich naheliegender gewesen wäre. Das heißt aber nicht, dass nicht irgendwann noch ein weiterer Roman von Boyle realisiert wird. Ich denke jedoch, dass es mit aktuellen Bestsellern immer etwas schwieriger ist, weil sich alle Begehrlichkeiten darauf konzentrieren. Bei »Wassermusik« ist dieser Hype schon ein bißchen abgeklungen. Außerdem ist es für mich eines der schönsten Bücher Boyles.
»Wassermusik« war und ist bei vielen Boyle-Lesern ja auch die Einstiegsdroge.
Es ist auf jeden Fall ein sehr, sehr schöner Roman, der auch beim Wieder-Wieder-Wiederlesen noch Spaß macht und viel von T.C. Boyle zeigt.
War es dementsprechend leicht, so namhafte Schauspieler wie Andreas Pietschmann, Anna Thalbach, Matthias Köberlin oder Thomas Fritsch für das Hörspiel zu begeistern? Wie kam die Besetzung der Rollen zustande?
Sie dafür zu begeistern, war überhaupt nicht schwer. Mit einem guten Text kann man, glaube ich, jeden Schauspieler locken. Bei »Wassermusik« haben wir viel gutes Material, viele emotionale Zustände. Es ergab sich auch eine interessante Konstellation, weil wir uns entschieden haben, die einzelnen Geschichtsstränge, also den Ned-Rise-Strang, den Mungo-Park-Strang und den Ailie-Anderson-Strang, jeweils mit einer Erzählhauptfigur zu belegen, die abwechselnd das Ruder in die Hand nehmen und ihre Protagonisten begleiten. Am Ende verzahnen sich die einzelnen Stränge immer mehr, sodass sich dann selbst die Erzähler begegnen. Aber um zurück auf Ihre Frage zu kommen: An Begeisterung mangelte es nicht. Im Gegenteil. Wir haben sehr schöne Wortaufnahmen, eine sehr schöne Wortaufnahmezeit verbracht, mit tollen Ergebnissen, mit einer sehr schönen Stimmung und einer großen Lust seitens aller, das Werk in den Mund zu bekommen und ihm ein bißchen Luft unter die Flügel zu geben. Das ist der Vorlage geschuldet, die so viel Inspirationskraft besitzt. Und was die Besetzung angeht: Ich habe beim Bearbeiten, beim Schreiben, beim Über-das-Stück-Nachdenken natürlich meine Ideen zu den Figuren. Wer könnte das verkörpern? Wer hätte die stimmliche Elastizität oder die entsprechende erzählende Schwere oder die Leichtigkeit? Wer passt jeweils in eine solche Konstellation? Es kommt immer ganz darauf an, wie man Beziehungen stiftet. Wie bekommt man ein Geflecht von Stimmen hin, die eine gewisse Nähe, aber trotzdem auch eine gewisse Distanz zueinander einnehmen? Ich glaube, dass wir eine sehr gute Wahl getroffen haben: Sowohl mit den Protagonisten Andreas Pietschmann, Matthias Köberlin und Anna Thalbach als auch mit den Erzählern Udo Schenck, Thomas Fritsch und Doris Kunstmann, die jeweils eine sehr eigene, klare Färbung haben und die Elastizität für diesen doch sehr leichtfüßigen, gleichermaßen deftig und filigran geflochtenen Text mitbringen. Einerseits bewegen sich alle auf einer Ebene. Andererseits ist die Divergenz so stark, dass die einzelnen Stimmen leicht voneinander zu unterscheiden und zu identifizieren sind und man somit auch der Geschichte und ihren einzelnen Geschichten gut folgen kann. Ich stimme das mit dem Besetzungsbüro ab und natürlich auch die Frage, was bezahlbar und möglich ist, wobei ich an dieser Stelle noch einen Exkurs anstellen möchte: Man muss immer im Auge behalten, dass beim Hörspiel nur ein Bruchteil dessen gezahlt wird, was im Fernsehen selbst ein Statist bekommt. Das ist kein Geheimnis. Es gibt ein Maximalhonorar von bis zu 500 Euro pro Tag, aber für eine ganze Acht-Stunden-Vollbeschäftigungsschicht, also keine Maske, keine Wartezeiten, sondern sehr konzentriertes und kontinuierliches Arbeiten. Für Schauspieler wie Thomas Fritsch oder Matthias Köberlin sind das Honorare, zu denen sie sich sicherlich nie oder nur mit sehr viel Idealismus vor die Kamera bewegen würden.
Hat bei den Zusagen der Sprecher vielleicht der Roman »Wassermusik« eine besondere Rolle gespielt oder der Name Boyle?
Also T.C. Boyle sicher. Ich weiß gar nicht mehr, ob wir im Detail darüber gesprochen haben, wer den Roman gelesen hat oder kannte. Das kann ich gar nicht mehr genau sagen. Aber spätestens beim Lesen der Bearbeitung war die Lust für viele da. Es ist zwar ein sehr stark verkürzter T.C. Boyle, aber es bildet seine Sprache und seine Situation ab, und das spricht dann schon für sich selbst.
Wie in Ihrer Kurzbiographie zu lesen ist, haben Sie bereits eine Vielzahl von bekannten Romanen vertont. Ken Follett, Michel Houellebecq, Umberto Eco. Worin unterscheidet sich die Arbeit an »Wassermusik« zu den Arbeiten an anderen Hörspielen, bei denen es eine erfolgreiche literarische Vorlage gab?
Jedes Werk ist so eigentypisch, dass man nicht von konkreten Unterschieden sprechen kann. Ich glaube eher, dass man als Bearbeiter und Regisseur generell die Bereitschaft mitbringen muss, sich auf die eigene Tonalität der jeweiligen Romane einzulassen. Ich würde immer dazu neigen, mich als Regisseur weniger kenntlich zu machen, also keinen Regie-Manierismus aufzupflanzen, indem eine bestimmte Schnitttechnik oder Geräuschästhetik über die Erzählung gegossen wird, sondern fragen: Was ist besonders spannend an dem Roman? Was hat mich besonders angefasst? Und wie finde ich eine mediale Ergänzung dazu? Bei »Wassermusik« ist es sicher Fabulierlust und das Überbordende der Geschichte. Das Welthaltige in gewisser Weise auch, weil Boyle ja zeitweise die Kontinente überspringt, zwischen Afrika und Europa in kurzen Schnittfolgen hin und her wandelt. All das, was in der Romanarchitektur angelegt ist, dafür ein Adäquat zu finden und das wiederum in der Ästhetisierung widerzuspiegeln, darum geht es. Das hat bei »Wassermusik« zu der Entscheidung geführt, auf den alles bestimmenden Erzähler zu verzichten und die Geschichten noch deutlicher nebeneinander zu stellen. Wir betonen noch ein bißchen stärker die filmischen Konsequenzen, die »Wassermusik« hat, dass es Parallelmontagen sind, dass ein Roman durch die Auflösung der Einheit des Ortes eine filmische Struktur der Parallelmontage herstellt, dass man diese drei Filme in einem oder die drei Filme zum Preis von einem ein bißchen mitbedient, und dass man sagt, wir machen drei Ästhetiken auf. Nicht drei getrennte Ästhetiken, aber drei Fäden, die erst einmal autark für sich funktionieren und wodurch man als Zuhörer die Möglichkeit hat, ganz deutlich zu unterscheiden, wir sind hier in dem Film »London« und hier in dem Film »Afrika« und hier in den schottischen Highlands, und dann warten wir mal, wie die drei Filme zusammenkommen.
Der Roman »Wassermusik« bezieht seinen Reiz besonders aus den zahlreichen Handlungssträngen, Randfiguren und Nebengeschichten. Inwieweit musste der Stoff für das Hörspiel gekürzt oder aus dramaturgischen Gründen umgeschrieben werden?
Egal, ob wir es mit Ken Follett und »Die Säulen der Erde« oder Umberto Eco und »Baudolino« oder mit T.C. Boyle und »Wassermusik« zu tun haben: Summasumarum bleiben von einem Roman in der Bearbeitungsfassung 20 Prozent übrig. Der wünschenswerteste Fall ist für mich immer, dass ich mit diesen 20 Prozent die fehlenden 80 Prozent vergessen mache. Das heißt, dass aus der dramatisierten Konstellation plus der Elemente, die das Buch nicht hat, also Geräusche und Musik, eine Situation geschaffen wird, die die Komplexität der 100 Prozent wieder erreicht, also durch die Verbindung, die Montage von Geräusch und Musik und Geschichte das Hörspiel wieder so vollständig ist wie der Roman.
Wobei ich mir vorstellen kann, dass dies gerade bei »Wassermusik« besonders schwierig ist. Der Roman ist ja unter anderem deshalb so beliebt, weil er die vielen Handlungsstränge hat, die vielen Figuren und Nebengeschichten.
Wir haben natürlich versucht, diese Komplexität zu erhalten, so sie rezipierbar bleibt, also die drei Parallelhandlungen so weit es geht gleichgewichtig zu behandeln. Im Roman ist die Ailie-Schiene die kleinste im Vergleich zu den beiden großen Erzählblöcken, »Aufstieg und Fall des Ned Rise« und Mungo Parks Reisen. Diese Dreiteiligkeit ist auf jeden Fall erhalten geblieben. Was das Fabulieren und die Nebenfiguren angeht, haben wir eingegrenzt. Doch es gibt durchaus den Dr. Delp-Exkurs und die immer wieder besonders bunten und schön erfundenen Figuren wie z. B. Georgie Gleg. Natürlich nicht in dem Umfang, wie es im Roman möglich ist. Aber das ist, glaube ich, auch der gattungsspezifische Unterschied: zu sagen, dass der Roman in der epischen Breite sein Fundament findet und die Nebenhandlungen ein starkes Element sind, während in der Natur des Hörspiels oder aller dramatisierten Formen, sei es Theaterstück oder Film, die Zuspitzung und die Pointierung eine Rolle spielen. Das bedeutet zwangsläufig weniger Nebenhandlungen und eine stärkere Fixierung auf die Haupthandlungsstränge, aber mit einer atmosphärischen Ausmalung, die den Schmerz lindert, dass bestimmte Lieblingssituationen nicht mehr darin vorkommen.
In einem Punkt kommt Ihnen »Wassermusik« als großes »Hörkino« sicher entgegen, und zwar in Bezug auf den Spannungsaufbau. Boyle schafft es in »Wassermusik« meines Erachtens wie in keinem seiner anderen Werke die Spannung hochzuhalten, indem er in den entscheidenden Momenten ausblendet und zu einem anderen Schauplatz wechselt.
Genau. (lacht)
Wurde dieses Stilmittel auch im Hörspiel angewendet?
Sicher. Das ist natürlich neben den vielen Binnenverweisen der Witz, den wir gerade [in der letzten Phase der Produktion] mit einer Szene erleben, in der Mungo und Ned mit den Eseln aufbrechen, die zweite Afrika-Expedition beginnen, und sich das Ih-Ah eines Esels mit dem Babygeschrei von Mungos jüngstem Filius in Schottland mischt. Es zeigt, dass es in diesem Binnenabnahmen viele sinnstiftende Elemente gibt, die einem beim Lesen vielleicht verlorengehen, die aber im Aufeinandertreffen von Akustik, Musik und Text deutlicher werden und für ein Aha-Erlebnis sorgen, wie eng und weit die Geschichte doch gespannt ist, wie viel Binnenwitz sie besitzt. Gerade diese Montageform »Schnitt im Höhepunkt der Szene und Wechsel« haben wir erhalten, weil es eine sehr mediale, uns entgegen kommende Technik ist.
Was ist das Hörspiel denn eher geworden, soweit man das zum jetzigen Zeitpunkt schon beurteilen kann? Fesselndes Forscher-Epos oder historische Komödie? Oder beides zu gleichen Teilen?
Tja, wenn ich das genau beantworten könnte. Es ist sehr viel ernsthafte Satire, kann man sagen. Wir haben sehr stark versucht, viele Spiegelungen von uns in die Vergangenheit darin vorzunehmen, also dass die Figuren nicht im klassischen Sinne historisch funktionieren, sondern immer wieder auch eine Angel in die Gegenwart auslegen, in bestimmten Formulierungen, in bestimmten Beschreibungsmomenten einfach eine extrem eigenwillige Modernität beweisen und viel Wiedererkennbares von uns selbst in dieses historische Gewand hineintransportieren. Deswegen ist vielleicht der komödiantische Aspekt innerhalb des Ganzen ein großer. Als warnendes Beispiel hatte ich noch »Willkommen in Wellville« vor Augen, das sehr stark auf die Überspitzung Wert legt, wobei der Roman ja doch weitaus vielschichtiger ist, als das, was der Film übrig gelassen hat. Wir haben versucht, »Wassermusik« in unterschiedlichen Farben zu behalten. Da, wo es ein Schauerroman ist, ist es ein Schauerroman. Da, wo es eine Komödie ist, ist es eine Komödie. Und da, wo es ein Wissenschaftsroman ist, ist es ein Wissenschaftsroman. Wir haben versucht, das Ganze mit ein bißchen Augenzwinkern zu verbinden.
Der Roman »Wassermusik« gilt nach Meinung vieler Leser als gar nicht oder nur sehr schwer verfilmbar. Sie müssten es nach der Arbeit an dem Hörspiel doch jetzt sehr gut beurteilen können, ob das wirklich so ist, oder?
Ich glaube, dass es keine einfache Antwort darauf gibt. Was die Dramaturgie angeht, ist der Roman verfilmbar, aber nicht in dem Konzept eines geschlossenen Kinofilms. Dazu ist der Roman zu reich und vielfältig. Er braucht das, was wir früher hatten: den Weihnachts-Fünfteiler oder so etwas. Er braucht eine Erzählfläche von acht, neun Stunden, die durchaus mit dem Material zu füllen sind. Und dann kommen wir auch gleich zum »Nein« des Ganzen. Für ein Fernsehprojekt wird kaum einer soviel Geld zur Verfügung stellen, wie für eine so handlungsortsreiche und auch wegen der historischen Komponenten teure Produktion benötigt wird. Deshalb glaube ich, realistisch ist es nicht, dass »Wassermusik« verfilmt wird, machbar schon.
Vom Stoff her wäre es doch eigentlich großes Hollywoodkino.
Natürlich. Es muss Hollywoodkino sein, aber auf Basis einer Fernsehverwertung, weil kaum einer sich zumuten wird, einen ganzen Tag lang ins Kino zu gehen, um die Geschichte adäquat erzählt zu bekommen. Ich brauche einen Rahmen, wie er bei »Herr der Ringe« gegeben war. Bei »Wassermusik« böte sich eine Zweiteilung an, also erste und zweite Afrika-Expedition. Aber es wäre immer noch zu lang, um den Roman im klassischen Sinne ins Kino zu bringen. Ich glaube auch, dass sich bis jetzt jedes Ansinnen dieser Art zerschlagen hat, weil der Roman einfach zu umfangreich ist, um ihn klein zu hauen, und zu teuer, um ihn in ein anderes Medium zu transportieren. Wer weiß? Zur Zeit verändern sich ja sehr viele Sachen. Wir sehen HBO, ein amerikanischer Pay-TV-Kanal, der in große, schöne Erzählungen investiert. Gerade in Amerika angelaufen ist »Rome«, ein historischer Stoff. Das ist keine Kleinserie mehr, sondern mit zwölf Stunden schon ein sehr umfangreiches Werk, mit einer abgeschlossenen Handlung und im historischen Gewande. Das könnte eine Aussicht sein. Die haben durchaus ein Produktionsbudget von 40, 50 Millionen, und in dieser Größenordnung könnte man auch darüber nachdenken, ob man nicht mit »Wassermusik« arbeitet. Ich wollte mich selbst anstrengen, das umzusetzen, glaube aber, im Moment ist die Zeit noch nicht reif dafür. Wir müssen also noch ein bißchen auf die filmische Verwertung warten und uns so lange mit dem Hörspiel trösten.
Highlights im Roman sind bekanntlich die ausweglosen und prekären Situationen, in die Ned Rise und Mungo Park immer wieder geraten, wie zum Beispiel Mungo Parks intime Begegnung mit der schwergewichtigen Fatima oder Neds Bekanntschaft mit dem Galgen. Ohne zuviel zu verraten: Sind dies auch die Höhepunkte im Hörspiel?
Jaja. (lacht) Beide Szenen sind sehr prominent in der Erzählung vorhanden. Es ist eine sehr vollständige und ausgeschmückte Fatima-Begegnung, die wir da haben, mit allen Konsequenzen, mit dem Austausch von Ohrringen, Schmuckstücken und Körpersäften. Und beim Galgen haben wir auch nicht gezögert, das volle Bild zu malen.
Eine sprachliche Besonderheit des Romans sind ja die Dialoge in London, in denen Boyle teilweise einen altertümlichen Gossendialekt verwendet und der von Werner Richter kongenial ins Deutsche übertragen wurde. Kann man sich darauf auch beim Hörspiel freuen?
Ja. Wortwörtlich. Da ist das Hörspiel immer dankbarer als der Film, weil der transportierte Text und die Gestalt des Autors einfach deutlicher hervorkommen als bei filmischen Adaptionen. Das heißt, bei allem, was uns Boyles Sprache bietet, habe ich mich bemüht, mich an den Duktus zu halten und darin weiterzuspinnen. Ob Dirk Crump oder Billy Boyles, die ganz massiv mit ihrer Sprachverstellung wuchern, oder das Delektieren des Erzählers an einer besonders wortreichen, ja silbrigen Sprache mit möglichst vielen interessanten Umstellungen – das hat auch allen Erzählern bei uns große Freude gemacht. Thomas Fritsch wollte sich kaum darum einkriegen, wie schön dieser Erzähltext funktioniert und wie schön man sich auch darauf setzen kann, weil er so eine feine Sprachmelodik hat und so eine schöne verschrobene Ästhetik.
Wird es denn eine Altersbeschränkung für das Hörspiel geben? Ich denke da an Szenen wie die Pornoshow in der »Wühlmaus«. Ist die auch im Hörspiel enthalten?
Ja, natürlich! (lacht) Alle Untiefen ausgelotet.
Und dann denke ich noch an die Szene, in der Smirke an die Kannibalen verfüttert wird.
Das ist die einzige, die gefallen ist. Das ist eine ganz spät gestrichene Szene, traurigerweise. Aber ich habe Smirke komplett rausgenommen aus dem zweiten Teil. Ursprünglich hätte ich vier Stunden gehabt für die ganze Geschichte. Ich konnte nach zähem Ringen noch fünf Stunden daraus machen. Gebraucht hätte ich sechs. Und hätte ich sechs Stunden gehabt, hätte ich sieben gewollt. Es gibt immer etwas, was man noch gern zusätzlich erzählen möchte und gern dabei hätte. Irgendwann heißt es dann aber für uns immer: Kill your darlings! Das, was man am liebsten hat, muss dann irgendwann sterben, weil es nicht zur entscheidenden Eskalation beiträgt. Diesen Nebenkriegsschauplatz, den Ned noch einmal aufmachen muss, weil ein alter Schuldner und Schuldiger dazwischen ist, den habe ich ausgelassen und die Eskalation schnell auf Ned und Mungo konzentriert. Um nochmal auf epische Breite und dramatisches Pointieren zu kommen: Wegen dieser Punkte ist das zum Opfer gefallen. Aber die ganzen anderen Positionen, die wir gerade aufgezählt haben, sind dabei.
Die Sprecher müssen sich mit ihren Figuren, denen sie ihre Stimme leihen, identifizieren. Welchen Bezug haben Sie als Regisseur zu den Protagonisten des Hörspiels? Haben Sie selbst eine Lieblingsfigur in »Wassermusik« bzw. hat sich eine solche während der Arbeit an dem Hörspiel herauskristallisiert?
Ich identifiziere mich am ehesten mit dem Autor. Ich liebe die Vielfalt in »Wassermusik« und kann keiner Figur die echte Präferenz geben. Es gibt durchaus Momente, in denen man Mungo an die Wand schlagen möchte, ebenso gibt es wegen der Trotteligkeit von Ned Rise Momente, in denen man sich auch von dieser Figur distanziert, von dieser Naivität, wenn er denkt, es läuft einigermaßen, also muss das jetzt immer so sein. Aber das spielt eigentlich keine Rolle. Denn wenn es einem Autor gelingt, und das ist ja faktisch für T.C. Boyle, so viel unterschiedliches und extremes Temperament in die verschiedensten Richtungen in einem Roman zu integrieren, dann ist meine vollständige Identifikation die Identifikation mit dem Autor, dem ich versuchen muss gerecht zu werden.
Boyle ist auch in seiner Heimat USA äußerst populär, ebenso wie sein Erstlingsroman »Wassermusik«. Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Hörspieladaption auch für den englischen Sprachraum verwendbar ist. Gibt es derartige Überlegungen? Oder geht dies schon allein aus rein rechtlichen Gründen nicht?
Sicher wäre dies nochmal Gegenstand einer neuen vertraglichen Situation, aber durchaus denkbar. Nur sind das bis jetzt zwei völlig inkompatible Märkte. Das Hörspiel in Deutschland funktioniert unter ganz anderen ästhetischen Gesichtspunkten als es im amerikanischen oder gesamten englischsprachigen Markt funktioniert. Die haben dort eine sehr viel größere Nähe zur Bühne, zur Sprechbühne, behalten und sind dementsprechend auch sehr viel theatralischer in ihrer Auflösung. Noch ist kein Versuch unternommen worden, interlingual das Gleiche zweimal zu machen. Es wäre sicher ein Versuch wert. Wenn unsere innere Situation im Moment nicht so angespannt wäre, wir also nicht um den Fortbestand des Hörspiels in Deutschland bangen müssten, dann wäre das sicherlich eine Idee, die man weiterspinnen könnte. Wie ließe sich so ein großer belletristischer, erfolgreicher, mit einer Riesen-Fangemeinschaft ausgestatteter Roman einmal in deutscher und einmal in englischer Sprache umsetzen? Hätte das eine Perspektive? Im Moment gibt es einfach keine Ressourcen dafür. Die Frage ist auch, wie nehmen die anderen unsere Ästhetik an? Da wären wir ja ausnahmsweise mal in der umgekehrten Situation, dass wir sozusagen das Technical Leadership beanspruchen dürfen, während sich auf dem englischsprachigen Markt ein Hörspiel allenthalben wie eine abgelauschte Theateraufführung anhört. Das hat bis jetzt den Engländern und den Amerikanern genügt. Für sie spielt das Hörspiel im Audiobereich überhaupt keine Rolle, bei ihnen bilden Lesungen das Hauptgeschäft: gekürzte, ungekürzte Excerpts. Die Hörspieladaption für den englischen Sprachraum wäre also noch ein kultureller Auftrag, den man angehen könnte. Bevor wir jedoch in der Lage sind, neue Märkte zu erobern, müssen wir uns erst einmal um den eigenen Fortbestand kümmern.
Vielleicht abschließend in ein, zwei Sätzen erklärt: Warum sollte man sich diesem Hörspiel unbedingt widmen?
Wegen des tollen Gefühls, in das ein Hörspiel entführen kann. Es ist noch ein bißchen zu früh, um darüber zu sprechen. Aber wenn alles so funktioniert, wie wir uns das vorstellen, dann entführt uns »Wassermusik« für fünf Stunden in eine andere Zeit und in eine andere Welt.
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Das Gespräch führte Holger Reichard am 5. September 2005 beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg. Titelfoto: © FinePic – Henkensiefken. Fotos im NDR-Studio Hamburg: © Karsten Weyershausen f. www.tcboyle.de. Ein Auszug des Interviews wurde in »Schallwelten«, Ausgabe 1/2006, veröffentlicht, dem Magazin und Gesamtverzeichnis des Hörverlags in München.