Zwanzig Meter. Fünfzehn Sekunden. Diese Zahlen hat ihm Jinji eingetrichtert. Die Entfernung zur zweiten Schleuse. Die Zeit, die ein nackter menschlicher Körper im blanken Vakuum überleben kann. Fünfzehn Sekunden bis zur Bewusstlosigkeit. Dreißig Sekunden bis zu irreversiblen Schaden. Zwanzig Meter. Zehn Schritte.
Lucasinho lächelt der schönen Abena Asamoah zu. Dann plötzlich blitzen die roten Lichter. Lucasinho ist auf den Beinen, als sich die Schleuse öffnet. Mit einem letzten Atemzug schießt er hinaus in den Sinus Medii.
Schritt eins. Sein rechter Fuß berührt den Regolith und verscheucht jeden Gedanken aus seinem Kopf. Die Augen brennen. Die Lunge lodert. Er droht zu platzen.
Schritt zwei. Die Luft ausstoßen. Raus damit. Null Druck in der Lunge, hat Jinji gemahnt. O nein, das geht nicht, das ist der Tod! Die Luft ausstoßen, sonst explodiert deine Lunge. Sein Fuß setzt auf.
Schritt drei. Er atmet aus. Der Luftzug gefriert in seinem Gesicht. Das Wasser auf der Zunge, die Tränen in seinen Augenwinkeln kochen.
Der Auftakt des Buches ist im wahrsten Sinne atemberaubend. Es wird ein Ritual auf dem Mond geschildert, das einfach fesselt. Gleichzeitig demonstriert er auch, dass sich die Bewohner des Erdtrabanten nicht anders verhalten als ihre Artgenossen auf dem Heimatplaneten: Die Geschäftsleute beuten rücksichtslos ihre Umgebung und deren Bewohner aus, versuchen immer weiter, ihre Macht auszubauen und ihren Profit zu steigern. Die jüngere Generation versucht, sich durch Mutproben oder sexuelle Erfahrungen zu beweisen und steht bereit, um die Nachfolge ihrer Eltern anzutreten.
Fünf Familiendynastien lenken die Geschicke auf dem Mond. Sie werden die fünf Drachen genannt. Bei der Familie Corta steht ein Führungswechsel bevor, aber die Nachfolger scheinen dieser schwierigen Aufgabe kaum gewachsen zu sein. Es droht ein Machtvakuum zu entstehen, das verschiedene Parteien gerne füllen möchten.
Die weniger begüterten Bewohner des Mondes werden währenddessen von den Kosten für die Grundstoffe Luft, Wasser, Kohlenstoff und Daten erdrückt und müssen sich verschulden, um überleben zu können. Dadurch geraten viele von ihnen ungewollt in Abhängigkeit. Eine von ihnen ist die junge Marina, die auf dem Mond kam, um dort das große Geld zu machen, mit dem sie die kostspielige Therapie ihrer Mutter bezahlen kann, aber dieser Plan ging nicht auf. Sie lernt die Lebensverhältnisse fernab der High Society kennen und wird durch eine Reihe von Ereignissen in den unbarmherzigen Machtkampf um den Mond hineingezogen.
Ian McDonald ist mir ein Begriff, seit ich vor vielen Jahren seine großartige Kurzgeschichte »Zum Kilimandscharo« gelesen habe. Er hat seitdem viele Science-Fiction-Themen behandelt. Mit »Luna« widmet er sich dem großen Familienepos, spielen lässt er es auf dem Mond. Auf dem Buchcover werden Vergleiche zu »Game of Thrones« gezogen und wegen der verfeindeten Clans ist das auch nicht so einfach von der Hand zu weisen. Hier wie dort geht es um Macht, Intrigen, Politik, Attentate und Verrat.
»Luna« ist spannend, komplex und vielversprechend. Dass diese Geschichte in einem größeren Maßstab geplant ist, merkt man nicht zuletzt an dem mehrseitigen Personenverzeichnis im Anhang. Durch das epische Konzept entstehen im ersten Band allerdings auch einige Längen, weil der Autor eine Menge Personal vorstellen und positionieren muss, doch davon werden die Folgebände sicher profitieren. Trotzdem geizt Ian McDonald natürlich nicht mit Action, Ideenreichtum und Spannungselementen.
Im Anhang wird auf das Erscheinen der ersten Fortsetzung im Mai 2017 hingewiesen. Wer sich auf die SF-Saga mit faszinierendem Schauplatz einlassen möchte, verfügt also bereits über ausreichend Lesefutter.
Eine kleine Warnung zum Schluss: Das Personenverzeichnis ist, trotz allem Nutzen bei der Lektüre, mit Vorsicht zu genießen, denn bei manchen Beschreibungen werden bereits Handlungselemente vorweggenommen, die bis zum Ende des Buches reichen.
Ian McDonald: Luna | Deutsch von Friedrich Mader
Heyne 2016 | 512 Seiten | Jetzt bestellen