Hilmar Klute: Oberkampf»Es wäre gut, wenn man sein ganzes Leben durchwaschen könnte oder zumindest den ranzig gewordenen Teil davon. Jonas wäre gerne mit dem Stolz des freudig Erwarteten nach Paris gefahren; stattdessen schlich sich plötzlich die Angst vorm Scheitern in seinen Kopf. (…) Jonas wollte nicht ein weiteres Mal scheitern, nicht nach der Bruchlandung mit den Klugen Köpfen, nicht nach dem müden Herabsinken der Gefühle im Leben mit Corinna.«

Christophe-Philippe Oberkampf war ein französischer Industrieller mit deutschen Wurzeln. Er lebte im späten 18. Jahrhundert. Im 11. Arrondissement von Paris ist eine Straße nach ihm benannt, die Rue Oberkampf. Sie liegt in der Nähe des Stadtteils Marais. Hier hat der »Streiflicht«-Chef der Süddeutschen Zeitung, Hilmar Klute, seinen neuen Roman angesiedelt, der in diesem Jahr beim Verlag Galiani Berlin erschienen ist.

Jonas Becker hat sich gerade von seiner Frau Corinna getrennt und die gemeinsame Agentur abgewickelt. Mitte vierzig wagt er in der Stadt der Liebe einen Neuanfang in besagter Straße mit einem Auftragsjob, mit dem er seinen Traum vom erfolgreichen Schriftsteller vorantreiben möchte. Er soll eine Biografie über den mäßig erfolgreichen Schriftsteller Richard Stein schreiben, der in Paris lebt. Zu diesem Zweck will Jonas den alternden Autor interviewen. Bei diesem Vorhaben führt Stein von der ersten Begegnung an Regie. Der Leser spürt, dass er mit seinen narzisstischen Zügen je nach Laune über das Gelingen der Arbeit entscheiden kann.

Zur gleichen Zeit lernt Jonas Christine kennen. Sie zeigt ihm die Stadt aus ihrer Sicht und führt ihn dabei auch an weniger attraktive Orte. Ihre Stimmung ist gedrückt, weil in Paris die Angst grassiert. Kaum ist Jonas in seiner Pariser Mansarde angekommen, richten islamistische Attentäter in der Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo ein Blutbad an. Nur einen Tag später erwischt es einen jüdischen Supermarkt. Haben seine Ambitionen und die Beziehung zu Christine unter diesen Voraussetzungen überhaupt eine Chance? Oder werden sie vom Terror und Steins unerträglicher Geltungssucht verschlungen?

Frankreich wird von den Ereignissen tief getroffen. Alle sind plötzlich »Charlie«. Jonas will sich davon nicht vereinnahmen lassen, weil er nicht Teil einer Phrase sein will. Er reagiert gelassen, beinahe gleichgültig. Hat dies mit seiner Fremdheit zu tun? Gehen ihn die Geschehnisse nichts an? Jonas blickt beinahe fasziniert auf die Attentäter, die zwei Tage nach ihrem Verbrechen auf der Flucht von der Polizei erschossen wurden. Sein Beobachter-Status wirkt auf den Leser beinahe abstoßend, weil er seinen Fokus nur auf die tiefen menschlichen Widersprüche richtet. Die gesellschaftliche Schieflage der Französischen Republik scheint ihn nicht zu interessieren.

Jonas überlegt, wie viel an Geschichte und Wirklichkeit für ihn zumutbar ist. Wie zivilisiert sind wir zwischen heruntergekommenen Häusern in verwahrlosten Vororten, wo die Menschen aus ihrem Müll nicht mehr herauskommen? Wie viel Anteil können und wollen wir nehmen? Wie selbstbestimmt wollen wir leben in dieser aufgewühlten Welt?

Während Jonas‘ Gedanken ununterbrochen um seine Selbstreflexion kreisen, ändert der alternde Schriftsteller Stein seine Biografie-Pläne. Ihm schwebt nun ein Interview-Buch vor. So wird Jonas zum Protokollanten von Steins ellenlangen, selbstverliebten Lebenseinsichten.

Als er von seinem erfrischend unkomplizierten Freund Fabian besucht wird, muss sich Jonas mit seiner jüngsten Vergangenheit auseinandersetzen. Eine gemeinsame Reise mit Stein in die USA sorgt im weiteren Verlauf für ein wenig Road-Movie-Gefühl. Während der Suche nach Steins Sohn, der ins Drogenmilieu abgerutscht ist, entpuppt sich der Altschriftsteller immer mehr zu einem bemitleidenswerten, abschreckenden Individualisten.

Im Herbst besorgt Christine für sich und Jonas Karten für ein Konzert im Rockclub Bataclan. Insgeheim hofft man, dass Jonas nicht dorthin fährt, es nicht schafft oder gar vergisst. Aber es nützt nichts, der Leser ahnt, wie Jonas‘ Zeit in Paris enden wird.

Natürlich liefert Hilmar Klute keine Antworten auf die dringenden Fragen, die sowohl Frankreich als auch unsere Gesellschaft betreffen. Doch dem Leser wird klar, wie angreifbar unsere Freiheit und unser liberaler Lebensstil sind. Die Vorzüge der freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung sind eben nicht selbstverständlich. Hilmar Klute kehrt mit fein austarierten Sätzen und wunderbar bildhafter Sprache die dunkelsten Seiten menschlichen Verhaltens nach außen, sodass selbst ein Feingeist wie Jonas Becker darüber fallen muss. Und das voller Sehnsucht, Melancholie, Komik und Bestürzung. Ein sprachliches Meisterwerk über die kleinen und großen alltäglichen Schreckensbilder unseres Alltags!

Hilmar Klute: Oberkampf | Deutsch
Galiani 2020 | 320 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen