Herbert Kapfer: 1919: Fiktion»Der kurze Sommer der Anarchie« von Hans Magnus Enzensberger, »Verschwende deine Jugend« von Jürgen Teipel und »1913« von Florian Illies – drei Bücher, die bei allen Unterschieden doch mit ganz ähnlichen Mitteln arbeiten. Die Textcollagen spielen mit unterschiedlichen Sichtweisen: Bei Enzensbergers Eloge auf den Spanischen Bürgerkrieg wurden vorhandene Fragmente benutzt und zusammengestellt, Teipel führte für sein »Wie der Punk nach Deutschland kam«-Evangelium eigens zahllose Interviews und Illies zitierte vergleichsweise wenig, erzählte seine Geschichte – die des Jahres 1913 – stattdessen mit Hilfe einer Vielzahl von Anekdoten. Nun also Herbert Kapfer, der sich dem Jahr 1919 widmet.

Für »1919« hat er nicht wenige belletristische und autobiografische Bücher verwertet, die sich mit dieser Zeit beschäftigen, darunter Werke von Oskar-Maria Graf, Richard Huelsenbeck, Arthur Kahane, Erich Mühsam, Heiner Müller und Ernst Toller, die durch ein paar mehr oder weniger aussagekräftige Fotos ergänzt werden.

Diese an sich gute Herangehensweise ist jedoch gleichzeitig auch das Manko des Buches. Fakten und Fiktion werden nämlich vermischt, ohne dies zu kennzeichnen, und da wo die drei genannten Referenzwerke durch Kontrastierungen und Komplettierungen, durch Witz und Wendungen überraschen, bleibt der Blick in »1919« oft über etliche Seiten derselbe. Im Falle des Lustspiels »10 Tage Rätefinanzminister« von Karl Polenske über mehr als dreißig Seiten! Die literarische Guerillataktik – der Vorteil dieser Art der Literatur – bleibt so leider auf der Strecke.

Natürlich ist die »Fiktion« – so wird das Werk wohl mangels einer besseren Bezeichnung genannt – trotzdem hochinteressant. Auch deshalb, weil auf diese Weise wichtige Bücher in die Erinnerung zurückgeholt werden, die lange aus dem Bewusstsein verschwunden waren. Warum nicht mal die »Jugend-, Kampf- und Zuchthauserlebnisse« von Max Hoelz im Original lesen? Oder die Erinnerungen von Gustav Noske, dem Bluthund der deutschen Revolution? Auch die Auszüge aus »Die Geächteten« von Ernst von Salomon reizen, das gesamte Buch in Augenschein zu nehmen. Auch wenn eine Wiederentdeckung und Renaissance des schreibenden Freikorpssöldners vielleicht doch nicht unbedingt wünschenswert ist.

Der Auftakt von »1919« ist übrigens furios. Kapfer verwendet einen Bericht aus der Zeitung »Die Aktion«, um die Brutalität des wilhelminisches Zeitalters und seiner Repräsentanten in
voller Pracht und Schönheit zu entlarven. Auch der Abschluss weiß zu überzeugen – er macht deutlich, dass das Dritte Reich, schon lange bevor es verwirklicht wurde, den Wünschen vieler Deutscher entsprach. Für den Rest des Buches braucht man jedoch etwas Geduld. Straffungen und Streichungen hätten hilfreich sein können, um die gute Idee ansprechender umzusetzen.

Herbert Kapfer: 1919 | Deutsch
Verlag Antje Kunstmann 2019 | 421 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen