Henry James: Washington SquareAustin Sloper, ein angesehener New Yorker Arzt des 19. Jahrhunderts, hadert mit seinem Schicksal. Seine bezaubernde Frau hat ihm einen Sohn geboren, auf den er all seine Hoffnungen setzt, aber der Junge stirbt im Alter von drei Jahren trotz der hervorragenden Eigenschaften, die sein Vater auf ihn projiziert hatte. Als zwei Jahre später ein Mädchen geboren wird, stirbt eine Woche darauf auch noch seine Frau. Der keineswegs vorurteilsfreie Vater steht plötzlich allein mit einem Mädchen da, von dem er glaubt, dass sie seinen Ansprüchen in keinster Weise genügt. Sie erscheint ihm nicht nur äußerlich wenig ansprechend, auch von ihren geistigen Fähigkeiten ist er nicht sonderlich überzeugt.

Dr. Sloper hält sich selbst für einen hervorragenden Menschenkenner und einen begnadeten Philosophen. Und er duldet keine abweichende Meinung neben seiner eigenen. Die Erziehung Catherines übernimmt eine seiner Schwestern, Mrs. Penniman, die Witwe eines wenig vermögenden Geistlichen. Im Laufe der Jahre wird sie zu Catherines wichtigster Bezugsperson. Obwohl der Vater mit ihnen in einem Haus wohnt, zeigt sich beim Voranschreiten der Geschichte zwischen ihm und seiner Tochter schnell eine Distanz, die sowohl emotionaler als auch räumlicher Natur ist.

Dr. Sloper zieht sich bevorzugt in seinen eigenen Wohnbereich zurück. Er lässt sich von den beiden Frauen nur ungern stören. Während er die Erziehung seiner Tochter gerne auf Mrs. Penniman abwälzt, wacht er jedoch mit Argusaugen über Catherines – vor allem zukünftiges – Vermögen. Als sie bei einer Feier Morris Townsend kennenlernt, schrillen bei ihm sämtliche Alarmglocken, denn dieser hat bereits sein eigenes Vermögen durchgebracht. Es gibt für den Arzt keinen Zweifel, dass der junge Hallodri es ausschließlich auf Catherines Erbe abgesehen hat. Zarte Bande entstehen zwischen den beiden jungen Leuten. Doch Dr. Sloper macht unmissverständlich klar, dass er diese Verbindung ablehnt. Im Falle der Wiedersetzung droht er seiner Tochter offen mit Enterbung.

Nun schwingt sich Mrs. Penniman als geheime Vermittlerin zwischen den Liebenden auf, geleitet von einem übersteigerten Romantikbild und der Tatsache, dass ihr der junge Mann durchaus gefällt, wenngleich sie sich nicht wirklich Chancen bei ihm ausrechnet. Dennoch himmelt sie ihn an. Und so spitzt sich die Situation immer weiter zu. Catherine gibt sich in jeglicher Hinsicht zurückhaltend, während Morris Townsend seinem schlechten Ruf gerecht zu werden scheint.

Es passiert eigentlich nicht viel in diesem Roman. Die Handlung besteht überwiegend aus Gesprächen und Überlegungen, die Wohnräume am Washington Square dominieren den größten Teil des Buches, eine Europareise sorgt für etwas Abwechslung, ehe es wieder zurück in das kalte, unwirtliche Wohnhaus geht. Der Roman zieht seine Spannung aus dem Verhältnis der Figuren zueinander und aus der Dechiffrierung ihrer Verhaltensweisen. Wird Dr. Sloper seine finanziellen Überlegungen über das Lebens- und Liebesglück seiner Tochter stellen? Ist Morris Townsend wirklich der charakterschwache Erbschleicher? Und ist Catherine tatsächlich die tumbe, in völliger Selbstreduzierung alles akzeptierende Tochter, die ihrem Vater gehorchend alles unterordnet?

Henry James‘ Klassiker ist auch heute noch höchst lesenswert. Mit seinem Roman »Washington Square« präsentiert sich der Schriftsteller als meisterhafter Kompositeur zwischenmenschlicher Beziehungen und Konflikte.

Henry James: Washington Square | Deutsch von Bettina Blumenberg
Manesse 2014 | 288 Seiten | Jetzt bestellen