Hélène Jousse: Die Hände des Louis BrailleEs ist wie ein Reflex. Wenn ich mit einer Packung Arzneimittel aus der Apotheke komme, fahre ich mit den Fingern fasziniert über die perforierten Punktekombinationen, die Blinden den Inhalt erschließt. Dies ist gewiss auch der Bekanntschaft mit dem blinden Bildhauer und Keramiker Dario Malkowski geschuldet. Als Klarinettist und Pianist umrahmte mein Mann Ausstellungseröffnungen mit seinen Werken, musizierte zu seinem 80. Geburtstag und auf dem Weg zu seiner letzten Ruhestätte. Seine Witwe hat uns eine der beiden Bronzeplastiken »Buch des Lebens« überlassen. Die andere befindet sich in der Kongressbibliothek für Blinde und Sehbehinderte in Washington. Eine weitere Arbeit von ihm trägt den Titel »Sehende Hände durch Louis Braille«. Den Namen des Blindenschrift-Schöpfers kennt fast jeder. Einzelheiten über ihre Erfindung im Jahr 1825 von dem damals erst sechszehnjährigen Franzosen Braille sind den wenigsten bekannt.

Da kamst du, Schöpfer Louis Braille,
und führtest uns aus geist’ger Nacht,
dem blinden Menschen hast zum Heile
du aus sechs Punkten Schrift gemacht.
So lernten unsre Hände sehen.
In Farbe tauchte sich die Welt.
Mit allen Dingen und Geschehen
Ward durch das Lesen sie erhellt.
Nun trage du der Genien Krone,
die deine Schöpfung dir verleiht;
denn Abertausend sind vom Frone
der Finsternis durch dich befreit.

Dario Malkowski 1951
(deutscher Bildhauer und Keramiker 1926-2017)

Hélène Jousses Debütroman »Die Hände des Louis Braille«, erschienen im Verlag Faber & Faber, bringt ein wenig Licht ins Dunkel. Die Autorin lebt als Künstlerin in Paris und erhielt an der bekannten Kunstakademie »Atelier Nikolas Poussin« ihre Ausbildung zur Bildhauerin. Dass sie von einem jungen Blinden gebeten wurde, ihm das Handwerk der Bildhauerei beizubringen, weckte meine Erinnerungen an Dario Malkowski. Ein Grund für mich Hélène Jousses Buch zu lesen.

Zwei Erzählstränge begegnen dem Leser in ihrem ersten Roman.

Constance Duroc arbeitet als Dramaturgin. Nach dem Tod ihres erblindeten Mannes gerät sie in eine Krise. Von einem bekannten Produzenten bekommt sie den Auftrag, das Drehbuch zu einem Film über Louis Braille zu schreiben. Da sich Constance aufgrund des Schicksals ihres verstorbenen Mannes bereits ausgiebig mit dem Leben von Louis Braille beschäftigt hatte, beginnt sie fasziniert zu recherchieren. Ihre Gedanken und Gefühle zu ihrer Arbeit, aber auch ihre persönlichen Notizen hält sie in einem Tagebuch fest, das den Titel »Rotes Heft von Constance« trägt. Sie erlernt die Blindenschrift, weil sie so ihrem Helden Louis näherkommen möchte. Constance entwickelt Louis Figur nach ihren Vorstellungen, durchlebt im Verlauf auch ihre eigenen Höhen und Tiefen, lebt ihre künstlerische Freiheit aus. Je mehr sie zu der kleinen genialen Persönlichkeit Braille vordringt, desto tiefer findet sie zu sich selbst. Dass Constance dabei nichts erfindet, sondern, wie sie selbst sagt, Leben neu erschafft, löst im weiteren Verlauf auch die Zweifel des Produzenten auf.

Das Drehbuch führt den Leser in das 19. Jahrhundert zurück und richtet den Spot zu Beginn auf einen lebhaften kleinen Jungen. Durch einen tragischen Unfall in der Sattlerwerkstatt seines Vaters verliert Louis zunächst ein Auge. Eine chronische Entzündung lässt ihn schließlich vollständig erblinden. Mit zehn Jahren schicken ihn seine Eltern nach Paris in das Königliche Institut für junge Blinde. Dies ist eine der ersten Blindenschulen weltweit. Die weite Entfernung vom behüteten Zuhause, die kompromisslos autoritäre Erziehung und die schlechten Lernbedingungen setzen dem intelligenten Schüler Louis Braille zu. Mit seinem starken Willen, seiner Bescheidenheit, Mut und Klugheit widersetzt er sich den Schikanen und Unannehmlichkeiten. Dass sich in der dortigen Bibliothek lediglich zwanzig schwere, unhandliche Bücher befinden, lässt dem jungen Louis keine Ruhe. So wird er auf einen für die Armee konzipierten Geheimcode aufmerksam, der als Nachtschrift von einem gewissen Hauptmann Carles Barbier entworfen wurde. Von diesem Code zum Alphabet aus sechs hervorstehenden Punkten, die man mit dem Zeigefinger ertasten kann, führt ein steiniger Weg. Der Leser leidet mit und freut sich am Ende mit dem Drehbuchhelden im Teenageralter.

Hélène Jousse lässt den Erfinder der Blindenschrift lebendig werden, sein Denken und Handeln nachvollziehen und schildert sein Schicksal einfühlsam und berührend. Der gewählte Rahmen unterstreicht die enge Beziehung, die die Autorin zu Louis Braille entwickelt hat. Der Leser spürt die Kraft und die Größe dieses einfachen Helden, der sein Verhängnis in einen Fortschritt für die Menschheit verwandelte. Auch Constance ist gestärkt aus ihrer eigenen Misere hervorgegangen. Für sie beginnt ein neuer Lebensabschnitt.

Christine Cavalli und Michael Hohmann haben den Text aus dem französischen ins Deutsche übertragen. Einmal mehr hat Faber & Faber den Fokus auf die Buchgestaltung gelenkt. Der Name der Autorin und der Buchtitel sind in Braille-Schrift in den Schutzumschlag geprägt, den ein Motiv von Dominique Amiel Zonca ziert. Dies findet sich auch auf dem Hardcover wieder und harmoniert mit der Farbe des Lesebändchens. Als Schriftart wurde eine Variante von Garamond gewählt, die ihren Ursprung im Frankreich des 16. Jahrhunderts hat. »Die Hände des Louis Braille« ist außerdem im Deutschen Zentrum für barrierefreies Lesen (dzb lesen) in Braille-Schrift erschienen.

Hélène Jousse: Die Hände des Louis Braille | Deutsch von Christine Cavalli und Michael Hohmann
Faber & Faber 2020 | 300 Seiten | Jetzt bestellen