Anlässlich ihres neunzigjährigen Bestehens brachte die Büchergilde Gutenberg im Herbst drei Novellen von Heinrich von Kleist in einem Band heraus, illustriert von drei Künstlern dreier Generationen. Mit einem der schönsten und aussagekräftigsten Gildenbücher dieses Jahres hat sich die Buch-Genossenschaft einmal mehr selbst übertroffen.
Dank Buchgestalterin Cosima Schneider vermittelt das bibliophile Kleinod dem Leser eine moderne Sicht auf Kleists Erzählungen (geprägter Leineneinband, drei Buchschleifen als Schutzumschlag). Das fördert den Zugang zum höchst anspruchsvollen Text, der fest in seiner Zeit verankert ist. Kleist, der einer Adelsfamilie entstammte, lebte zeitlebens in instabilen Verhältnissen. Zerrieben an den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen um die Jahrhundertwende 1800 entwickelte er seine Ideen und literarischen Experimente. Ein Nomade, ein Getriebener, der seine Protagonisten in der Realität handeln und scheitern lässt, leidenschaftlich, konsequent und ehrlich.
Zunächst begegnet der Leser dem einst angesehenen Rosshändler Michael Kohlhaas, dessen Geschichte auf die des Brandenburgischen Pferdehändlers Hans Kohlhase zurückgeht. Kohlhase opfert im frühen 16. Jahrhundert seine Familie, neben seiner gesellschaftlichen Stellung auch sonstiges Hab und Gut und verletzt sogar die Rechtsnormen. Nur, um in einem geringfügigen Streitfall Recht zu erhalten, bei dem ihm selbst klares Unrecht zugefügt wurde.
Kohlhaas, nach der Devise handelnd »Fiat iustitia, et pereat mundus« (»Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe auch die Welt daran zugrunde!«) gerät zwischen Spannungsfelder, in denen auch der Rezipient nach Orientierung sucht: Freiheit, Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Unterdrückung, Moral, Verbrechen und Selbstjustiz, Machtmissbrauch in Ämtern. Das unnachgiebige Verlangen von Michael Kohlhaas nach Gerechtigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Erzählung.
Nachdem der legale Versuch misslingt und Kohlhaas dabei seine Frau verliert, greift er zum Äußersten und übt Selbstjustiz. Ausufernde Maßlosigkeit bestimmt seinen persönlichen Racheakt gegen den Junker von Tronka und gipfelt im blutigen Feldzug gegen alles und jeden. Nicht nur Kohlhaas, der Wüterich nagt am Leser-Gewissen, Johannes Grützkes einfache Striche sorgen zusätzlich für Beklemmungen, auch wenn sie ohne den Text stehen könnten.
Das ungute Gefühl begleitet den Leser ebenso während der nächsten Novelle, beschreibt doch die »Marquise von O…« am Beispiel des Grafen F…, wie der Krieg einen Menschen verändern kann. Italien zur Zeit des Zweiten Koalitionskrieges zwischen 1799 und 1802: Die verwitwete Marquise von O… ist schwanger, ohne dass sie sich wissentlich mit einem Mann einließ. Über eine Zeitungsanzeige sucht sie nach dem unbekannten Vater.
Als der ihr vertraute Graf F… sich zur Vaterschaft bekennt, heiratet sie ihn. Seine Gewalttat verzeiht sie ihm jedoch erst viel später. Anke Feuchtenbergers Illustrationen überlagern bewusst die Zeiten in ihren Zeichnungen und holen die Darstellungen des Kriegsgräuels in das 20. Jahrhundert. Düster und vom Schwarz dominiert wirken sie besonders plastisch. Die zeitlose Ohnmacht der Frau rückt in den Mittelpunkt und ist noch am glücklichen Ende allgegenwärtig.
»Der Findling« handelt von dem wohlhabenden Immobilienhändler Antonio Piachi, der mit seinem elfjährigen Sohn Paolo auf Geschäftsreise nach Ragusa fährt. Seine deutlich jüngere zweite Frau Elvire bleibt zu Hause in Rom. Verfrüht kehrt Piachi mit einem Knaben namens Nicolo aus der pestinfizierten Stadt zurück. Sein eigener Sohn erlag der Krankheit. Er adoptiert Nicolo und zieht ihn groß. Im Verlauf des Geschehens zeigt Nicolo sein wahres Gesicht; angefangen von seinen zahlreichen Affären bis hin zum Versuch, seine Adoptivmutter Elvire zu vergewaltigen. Nachdem Elvire gestorben ist, rastet der einst ruhige und besonnene Piachi aus.
Unruhe herrscht in Martin Grobeckers Bildern vor, nichts Gutes verheißend. Die zum Teil wild angeordneten Schraffuren scheinen sich zu vermehren, die zahlreichen kleinen Striche dringen wie Nadeln unter die Leser-Haut.
Nachhaltig prägen sich dem Leser die Protagonisten aller drei Novellen ein und mit ihnen die wirkungsvollen Bilder. Das ist einzigartig!
Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas/Die Marquise von O…./Der Findling | Deutsch
Edition Büchergilde 2014 | 300 Seiten | Jetzt bestellen