Wie nähert man sich dem Werk eines Autoren, der seit den Siebzigern nicht nur schreibt und veröffentlicht, sondern seitdem weltweit Preise für sein Werk bekommt und rund um den Globus von ihrerseits geschätzten Kunstschaffenden jeglichen Gewerkes gefeiert wird? Vor Respekt einknicken und gleich die Segel streichen? Oder das Glück haben, dass einem der Autor mit seinem jüngsten Buch »Erste Person Singular« (一人称単数) den Zugang so unglaublich leicht macht: Haruki Muarakami (村上 春樹) bündelt darin acht kurze Geschichten aus der titelgebenden Perspektive, die er mit realen biografischen Elementen spickt und so die Grenzen zwischen Ich-Erzähler und Autor verwischt. Das geschieht sprachlich kunstfertig, mit Humor, voller Popkultur und enorm phantasievoll bis hin zur Metaphysik – sprechende Affen, die Frauen die Namen klauen, im Traum erscheinende Jazzmusiker und plötzlich auftauchende Gärten deuten an, dass Murakami da sehr verspielt mit der Realität umgeht. Und ausnehmend unterhaltsam.

Höhepunkt für einen Rezensenten ist die Geschichte »Charlie Parker Plays Bossa Nova«, in der der Ich-Erzähler berichtet, wie er als junger Mensch acht Jahre nach dem Tod des »Bird« genannten Jazzsaxophonisten eine Rezension verfasste, laut der Parker den Bossa Nova spielte, der seinerseits erst nach Parkers Tod überhaupt salonfähig wurde. Die Reaktionen seien zwiegespalten gewesen: Einige Fans hielten den Beitrag für pietätlos, andere hätten das Album gern hören wollen. So weit, so lustig, doch Murakami spinnt weiter: Der Erzähler habe Jahre später in einer Kiste eines New Yorker Plattenladens eine Kopie exakt dieses Albums gefunden, es aber nicht gekauft, weil er sich nicht veralbern lassen wollte. Am Folgetag bereute er dies, doch der Verkäufer insistierte, eine solche Platte niemals in seinem Sortiment gehabt zu haben. Noch später erschien dem Erzähler der Saxophonist im Traum, spielte einen Song von dem nichtexistenten Album und bedankte sich für die Rezension. Mit der Geschichte überzeugt Murakami aus dem Stand, man lacht viel, freut sich über das jazzhistorische Fachwissen und genießt die Sprache und die erzählerischen Kniffe, die die Geschichte gar nicht erst linear werden lassen.

Schon ist man mittendrin im Murakami-Universum, wie die anderen zu lesenden Geschichten noch verdeutlichen werden, und es ist womöglich auch ganz hilfreich, nicht mit dem Aufmacher einzusteigen, weil der etwas befremden könnte, wenngleich darin ebenfalls zahlreiche wundervolle Murakami-typische Elemente angelegt sind, zu denen später mehr. In »Auf einem Kissen aus Stein« sinniert der Erzähler nämlich über eine Frau, mit der er als Jugendlicher eine sexuelle Episode erlebte und die bei ihm kaum mehr als die handfeste Erinnerung daran sowie einen handgefertigten Gedichtband zurückließ, nicht einmal an ihren Namen mag er sich erinnern. Es hat nun zunächst etwas Schmuddeliges, einen Mann von über 70 Jahren von sexuellen Abenteuern aus einer Jugend phantasieren zu erleben; leider ein Mechanismus, der bei in die Jahre gekommenen Männern nicht selten auftritt, siehe »Evangeline« von The Mission oder »Youth« von Paolo Sorrentino. Offenkundig scheint Sexualität in Murakamis Werk jedoch ohnehin ein weder seltenes noch verklemmtes Element zu sein, was auch auf andere Geschichten dieses Buches zutrifft, nur ist es in diesem Eröffnungstext schon recht ausgeprägt, wie er auf dieser Erinnerung, nun, herumreitet. Obschon der Sex, wie auch in den anderen Beiträgen dieses Buches, eigentlich lediglich eine Nebenrolle spielt und der jeweilige Kern der Sache viel aufregender ist. So nimmt Murakami in »With The Beatles« die genannte Band und den Sex lediglich als Vehikel für die zweimalige Begegnung mit dem Bruder einer früheren Partnerin sowie dafür, die wohl wichtigste Popband aller Zeiten behutsam herabzuwürdigen, auf diese Weise geht man als Jazz- und Klassikfan damit um, und so dient der nicht vollzogene Sex mit der wohl hässlichsten Frau, die der Erzähler je kennenlernte, in »Carnaval« als Basis für einen Beitrag zu Schein und Sein, zu Masken und wahrem Gesicht, mit einer mehr als überraschenden Wendung. Erstaunlicherweise hält Murakamis Erzähler bei vielen Sextexten nicht hinterm Berg, genau wie der Autor verheiratet zu sein und trotzdem von anderen Frauen zu schwärmen.

Aber das ist nur ein Randaspekt, man liest und feiert Murakami für anderes und für weitaus mehr. Seine Sprache ist da ein wesentlicher Punkt, er schreibt sehr akkurat, sehr wohlformuliert, er schludert nicht, nimmt keine sprachlichen Abkürzungen, wenn er auch komplex veraltet ausformulieren kann, dass es im Kontrast zu den auf diese Weise vermittelten Inhalten nur noch humorvoller erscheint, es gerade so ausgedrückt zu bekommen. Lakonie ist ein weiteres Element, mit dem Murakami gern arbeitet; er bewertet sich selbst als gerade so mittelmäßigen Schriftsteller, überhöht sich nicht, ganz nach japanischer Art beherrscht er das Understatement, und sobald er sich dergestalt von den Thronen herunterschreibt, auf die ihn Kritiker und Fans setzen, kann man nur mit ihm lachen. Auch sein Fachwissen stuft er als unvollständig ein, glänzt aber fortwährend damit, etwa in Bezug auf Jazz, Klassik oder Baseball. Nicht zuletzt sind es seine nicht linearen Erzählfäden, die Freude bereiten: Murakami schweift ab, bringt unter, wirft Blasen, biegt in unvorhergesehene Richtungen ein. Und bedient dabei auch noch die Metaebene, wenn er etwa am Ende eines Fragen aufwerfenden Textes analog zu einer in dem Text behandelten Schulaufgabe, die die Intentionen eines Autors abfragt, die man Murakami zufolge als Rezipient ja nicht ahnen könne, eine Schulaufgabe stellt, die den Lesenden eine Analyse des vorangegangenen Textes abringen soll. Damit reißt er einerseits das hochtrabende Literaturgewese ein, liefert aber andererseits gleichzeitig großartige Literatur. Zu analysieren gibt es bei Murakami nämlich tatsächlich eine Menge, das ist unbenommen: Themen wie Verlust, Vergänglichkeit, Einsamkeit, Spiritualität, Identität verbergen sich in den Erzählungen.

Dieses inhaltliche Mäandern entlang von Zufällen und Rätselhaftigkeiten kennt man auch von Paul Auster, dem großen New Yorker, und es fällt sehr auf, dass Murakami seine Geschichten zwar vorrangig in Japan spielen lässt, aber in vielen Aspekten sehr US-amerikanisch und leicht europäisch geprägt ist. Trotz vieler Details und Begriffe aus dem japanischen Alltag, die man teilweise erst recherchieren muss, um sie zu verstehen, erleichtert dieser West-Bezug den Zugang zu Murakamis Arbeit. Eher japanisch wiederum ist der Einsatz von Metaphysik, den Murakami vortrefflich auslebt, und noch großartiger, dass er bisweilen erst ein übersinnliches Rätsel aufwirft, das die Lesenden verwirrt, und dann den Erzähler sagen lässt, dass es ihm selbst ein Rätsel sei, was da vor sich ging. Ein Schelm, ein schriftstellerischer! Noch verwirrender ist, dass Murakami recherchierbar zutreffende Aspekte seines eigenen Lebens in die phantastischen Geschichten einwebt, damit also den Eindruck von metaphysischer Wahrhaftigkeit nur verstärkt.

Das Vergnügen mit »Erste Person Singular« ist kurzweilig, aber auch kurz. Die große Druckschrift lässt es zu, das nicht eben dicke Büchlein schnell durchzulesen, doch sei davon abgeraten: Es könnte sein, dass man die wundervollen Einfälle Murakamis und seine Sprache beiläufig überfliegt. Und da Fachleute sagen, dass dies ein für Murakamis Verhältnisse eher schwaches Buch sei, empfiehlt es sich für jene, die es trotzdem mögen, wohl als Einstieg in ein neues Universum.

Kleiner kurioser Fakt: Natürlich hat es »Charlie Parker Plays Bossa Nova« nie gegeben. Jedenfalls bis zum Jahr 2021, als die Musiker Miłosz Konarski und Wojtek Rejdych ein Album mit dem Titel »Charlie Parker Plays Bossa Nova (What If)« einspielten, das es ganz real im Internet zu hören gibt. Da holt die Wirklichkeit die Metaphysik ein.

Haruki Murakami: Erste Person Singular | Deutsch von Ursula Gräfe
Dumont 2021 | 224 Seiten | Jetzt bestellen