Hari Kunzru: Götter ohne MenschenDie Abstände zwischen den Schrottstädten wurden größer. Bald waren die einzigen Lebenszeichen riesige weiße Windräder und Plakatwände mit Werbung für Casinoanlagen. Ein Outlet-Center tauchte wie eine Fata Morgana am Straßenrand auf. Dann nichts. Meilenweit nur Felsen und Gestrüpp. Irgendwann dämmerte es. Funken sausten an den Rändern seines Sichtfeldes vorbei, kleine Kometen, die er für überholende Autos oder Fledermäuse hielt. Er kam in einen Ort, dessen Name ihm entgangen war, und sah ein Motelschild. Entlang der Strecke gab es Dutzende solcher schäbiger Läden. Desert dies und Palm jenes. Das hier hieß »Drop Inn«. Er war zu müde, um weiterzufahren.

Handlungsort ist ein einsames Motel in der Mojave-Wüste, in dem sich die unterschiedlichsten Menschen begegnen. Der indischstämmige Informatiker Jaz arbeitet an der Wall Street und hat eine weiße Amerikanerin geheiratet. Für seine traditionsbewusste Familie ist der Autismus des gemeinsamen Kindes die Strafe der Götter für Jaz’ Verrat an seiner Kultur. Die Beziehung der gestressten Eltern droht zu zerbrechen und dann verschwindet der autistische Junge in der Wüste. Ein weiterer Gast im dem Motel ist ein britischer Rockstar, der vor dem Tourstress und seinen Drogenproblemen geflohen und dort gestrandet ist. Er hat zuvor Kontakt zu dem Jungen gefunden.

Zwischen diese dramatischen Ereignisse streut Kunzru immer wieder historische Episoden, die die Vergangenheit dieses Landstriches von 1775 bis 2008 beleuchten. Von spanischen Missionaren über Indianerstämme zur Zeit des Wilden Westens zu einem Flugzeugmechaniker, der dabei geholfen hat, die Atombombe nach Hiroshima zu fliegen. Dieser Mann bleibt der Gegend verhaftet und beginnt, ins All zu funken. So legt er den Grundstein für eine Kommune aus UFO-Anhängern und Alien-Gläubigen, die bis in die Gegenwart besteht. Außerdem befindet sich in der Nähe ein Armeestützpunkt. Die US-Army trainiert in der Wüste für den Einsatz im Irak und setzt dabei irakische Flüchtlinge als Statisten ein.

Was klingt wie eine satirische Sause ist ein intelligenter Gegenwartsroman, der sich mit vielen ernsten Themen beschäftigt, ohne sich dabei zu verheben. Einwanderung, Identität, Rassismus, Soziale Netzwerke, Religionen und deren Ersatz sowie das Unrecht an amerikanischen Ureinwohnern werden ohne pädagogischen Zeigefinger in die Handlung eingewoben. Es ist ein Roman über Amerika und die Vielfältigkeit der Menschen, die dort leben. Mal spannend, mal humorvoll, aber immer grandios geschrieben.

Der Autor ist ein absoluter Könner und verleiht jedem einzelnen Handlungsstrang eine eigene Erzählweise. Deshalb kann man Hari Kunzru mal mit T.C. Boyle vergleichen, an anderer Stelle mit David Mitchell und in den kürzeren Episoden mit den Erzählungen von Adam Johnson. Empfehlen kann ich inzwischen auch Kunzrus Roman »Red Pill«, der in Berlin spielt. Und diese beiden werden nicht die einzigen bleiben. »White Tears«, sein erster großer Erfolg in Deutschland, steht als nächstes auf der Liste, und Mitte Mai erscheint dann sein aktueller Roman »Blue Ruin«.

Hari Kunzru: Götter ohne Menschen | Deutsch von Nicolai von Schweder-Schreiner
Liebeskind 2020 | 432 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen