Han Kang: Menschenwerk»Ist der Mensch von Natur aus grausam? Ist das was wir durchgemacht haben, eine ganz normale Erfahrung? Leben wir nur in der Illusion, Würde zu besitzen, obwohl wir uns von einem Moment auf den nächsten in Abschaum verwandeln können, in ein lästiges Insekt, in eine wilde Kreatur, in eine formlose Masse aus Geschwüren und Eiter? Ist es die Bestimmung des Menschen, erniedrigt, verletzt, getötet zu werden, wie es die Geschichte immer wieder belegt?«

Der neue Roman der koreanischen Autorin Han Kang führt uns in ihre Heimatstadt Gwanju. Dort versammelten sich in den Tagen vom 18. bis 27. Mai 1980 Studenten, um die 100.000 Menschen in den Straßen von Seoul beim Protest gegen die herrschende Militärdiktatur unter General Chun Doo-Hwan zu unterstützen. Schnell erfahren die jungen Leute die Solidarität der restlichen Bürger der Stadt. Doch die Militärregierung schlägt brutal zurück. Soldaten ermorden unschuldige Bürger, Panzer rollen durch die Straßen – eine Stadt im Ausnahmezustand.

»Menschenwerk« nennt die Schriftstellerin ihre im vergangenen Jahr beim Aufbau Verlag erschienene Auseinandersetzung mit den blutigen historischen Ereignissen.

Dong-Ho sucht nach der Leiche seines Freundes Jeong-Dae, der bei dem gewaltsam niedergeschlagenen Studentenaufstand ums Leben kam. Dabei schwebt eine Seele über dem toten Körper und beschreibt, was sie sieht.

»Wo nistet das Vögelchen, das den Körper eines Verstorbenen verlässt, solange dieser noch am Leben ist? Zwischen den Augenbrauen? Irgendwo im Herzen? Oder schwirrt es wie ein Heiligenschein um den Kopf herum?«

Einem Puzzle gleich verknüpft Han Kang die unvorstellbaren Geschehnisse dieser Tage und führt dem Leser nüchtern, dafür umso eindringlicher und intensiver die grausamen Ereignisse dieser zehn Tage vor Augen. Dong-Hos Bericht über die Gräueltaten des Militärs lässt den Rezipienten das Buch mehrmals aus der Hand legen. Weiterlesen unmöglich? Durch die verschiedenartige Ansprache des Lesers (mal »Du«, mal »Sie«) wirkt der Roman besonders plastisch. Kang gelingt es, den Leser unmittelbar in das Geschehen zu ziehen und auch wenn es schmerzt, weiterzulesen.

So ziehen Szenen mit Kindern an einem vorbei, die im wahrsten Sinne des Wortes niedergemetzelt werden. Bajonette klirren beim Zustechen. Soldaten schlagen und treten zu, Gedärme quellen aus Körpern, die von Tag zu Tag unkenntlicher werden. Berge von Leichen werden abtransportiert und verbrannt, Frauen werden auf unvorstellbare Weise gefoltert.

Jahrzehnte später erinnert sich eine Angestellte, wie sie in die Protestbewegung geriet. Eine Mutter trauert immer noch um ihren Sohn. Eine Schwester probiert weiterzuleben. Ein Folteropfer kämpft gegen die Erinnerung. Alle Erzählungen sind bittere Retrospektiven aus den Folgejahren des Massakers und thematisieren Haft, Folter, Depressionen, Einsamkeit und Schuldgefühle. Sie zeugen von der Unmöglichkeit eines normalen Lebens danach. Im Epilog sucht die Autorin nach einem Sinn und lässt den Leser an ihren Gefühlen während ihrer Recherchen teilhaben.

»Im Augenblick will ich nur, dass Sie mich hier wegbringen. Ich will, dass Sie mich zur hellen Seite führen, auf die sonnige Seite, auf die mit Blumen gesäumte Seite.«

»Menschenwerk« zeigt nachdrücklich die Sinnlosigkeit von Gewalt und brutaler staatlicher Willkür – unerheblich, in welchem Land. Han Kang gibt den Opfern einfühlsam eine Stimme, erinnert und mahnt zugleich. Des Menschen Werk Unterdrückung unterliegt der Menschen Bereitschaft, Leid zu ertragen, Gefangenschaft und Tod hinzunehmen, um am Ende Gerechtigkeit zu erlangen. Deshalb sei diesem einzigartigen »Menschenwerk« eine große Leserschar gegönnt.

Den deutschen Text verfasste die Übersetzerin Ki-Hyang Lee, die auch Kangs »Vegetarierin« übersetzt hat. Lee lebt in München und arbeitet als Lektorin, Übersetzerin und Verlegerin.

Han Kang: Menschenwerk | Deutsch von Ki-Hyang Lee
Aufbau Verlag 2017 | 224 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen