Guadalupe Nettel: Nach dem WinterDies ist die Geschichte von Claudio und Cecilia. Der gebürtige Kubaner lebt in New York und verdient seinen Lebensunterhalt als Lektor in einem Verlag. Seine Wohnung ist seine Festung, in die noch nie ein Gast einen Fuß gesetzt hat. Sein Leben wird von Zwängen beherrscht, die ihm aber im Gegensatz zu vielen anderen Menschen eher Sicherheit und eine zuverlässige Struktur bieten. Trotz seiner selbst gewählten Isolation ist er aufgrund seines guten Aussehens bei Frauen beliebt, wodurch auch seine Libido nicht zu kurz kommt.

Cecilia ist Mexikanerin, die in Paris mit Hilfe eines Stipendiums ihre Studien fortsetzt. Ihr bevorzugter Kleidungsstil sowie ihre eher introvertierte Art lassen sie in den Augen ihrer Umgebung nahezu unsichtbar erscheinen. Sie lebt zunächst bei Freunden, später in einer kleinen Mietwohnung mit Blick auf einen Friedhof. Sie hat Schwierigkeiten, sich in der ihr fremden Umgebung anzupassen, auf sie wirkt Paris vor allem in der kalten Jahreszeit ungastlich und manchmal regelrecht unwirklich. Einzig ihre Freundin Haydée sorgt gelegentlich für einen Impuls, ihr graues Leben etwas aufzupeppen.

Zu dem Zeitpunkt, als sich Claudio und Cecilia auf einer Party kennenlernen, sind beide trotz ihrer Bindungsschwierigkeiten in einer Beziehung mit Dritten, welche bei genauerer Betrachtung ähnlich verletzliche Persönlichkeiten offenbaren. Beide Exilanten sind von ihrem Aufeinandertreffen berührt, und sie lassen sich aufeinander ein. Die Verwicklungen nehmen ihren Lauf …

Die Geschichte wechselt ständig ihre Perspektive, mal handelt ein Kapitel von Claudio, seinen Erlebnissen und Empfindungen, dann wieder von Cecilia. Gemeinsam Erlebtes, welches aus der männlichen Perspektive nur kurz erwähnt wird, wird u.U. im nächsten Kapitel aus weiblicher Sicht gedankenvoll seziert und vice versa. Für den Leser ist dies eine interessante Herangehensweise, man fühlt sich fast in der Rolle eines Psychoanalytikers, wenn man der Gedanken- und Gefühlswelt der beiden nachspürt. Viele Erkenntnisse sind zwischen den Zeilen zu entdecken.

Die große Stärke dieses Buches ist die psychologische Analysierung der auftretenden Personen. Guadalupe Nettel taucht tief in das Seelenleben ihrer Figuren ein und mit jeder weiteren Rückblende und jedem neuen Gedankenstrom vervollständigt sich das Bild der Charaktere etwas mehr. Es wird deutlich, warum sich jemand so verhält, wie er sich verhält. Der Satz »Der Mensch ist das Ergebnis seiner Umstände« könnte die Quintessenz dieses Buches sein. Man ahnt es schon: »Nach dem Winter« ist beileibe keine fade rührselige Schmonzette, sondern ganz im Gegenteil ein faszinierendes Psychogramm, welches sich auch auf die weiteren Personen des Romans erstreckt.

»Nach dem Winter« ist das erste Buch von Guadalupe Nettel, welches dem deutschen Lesepublikum zugänglich gemacht worden ist. Weitere dürfen gerne folgen.

Guadalupe Nettel: Nach dem Winter | Deutsch von Carola Fischer
Blessing 2018 | 352 Seiten | Jetzt bestellen