Vor einer Woche hatte ich Abschied von Harry genommen, als sein Sarg in die im Februarfrost erstarrte Erde hinabgelassen wurde. Ich traute also meine Augen nicht, als ich ihn in London im Menschengewühl des »Strand« ohne ein Zeichen des Wiedererkennens an mir vorübereilen sah.
Oben genannte Zeilen schrieb Graham Greene zunächst auf einen alten Briefumschlag. Als der Filmproduzent Alexander Korda ihn nach einem neuen Drehbuch für den Regisseur Carol Reed fragte, wurde aus diesem Absatz der 1949 erschienene britische Nachkriegs-Thriller »The Third Man«. Berühmt wurde der Streifen durch Anton Karas‘ Zitherspiel, die expressionistischen Kameraeinstellungen, Orson Welles‘ häufig erwähntes Kuckucksuhr-Zitat und die spektakuläre Verfolgungsjagd durch die Wiener Kanalisation. Greenes Arbeitsweise ist es zu verdanken, dass aus seinem Stoff erst einmal eine Erzählung wurde, bevor er ein Drehbuch daraus fertigen konnte.
»›Der Dritte Mann‹ wurde nicht geschrieben, um gelesen, sondern nur, um gesehen zu werden …«, so Greene in seinem Vorwort, das auch der im März 2017 bei der Edition Büchergilde erschienenen Ausgabe vorangestellt wurde.
Wien 1945: Russen, Amerikaner, Franzosen und Briten hinterlassen ihre Spuren in der zerstörten Stadt. Intrigen, Korruption und Schwarzmarkt haben Konjunktur. Der Groschenroman-Autor Rollo Martins wurde von seinem Jugendfreund Harry Lime nach Wien gerufen, weil hier verlockende Verdienstmöglichkeiten bestünden. Dort angekommen wird ihm die Nachricht überbracht, dass sein Freund bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Ungereimtheiten zwischen dem offiziellen Bericht und den gegensätzlichen Aussagen der Augenzeugen stoßen Rollo Martins eigene Ermittlungen an.
Außerdem eröffnet ihm der britische Oberst Calloway, dass sein alter Freund Lime in Penicillinpanschereien verwickelt war. Auch Limes Freundin Anna hat ihre eigene Sicht auf die Dinge. War Martins Jugendfreund Harry Lime tatsächlich der gewissenlose Kopf einer Schieberbande? Wer ist der dritte Mann, der an der Unfallstelle gesehen wurde? Lebt der tot geglaubte Harry Lime etwa noch oder leidet Martins und Halluzinationen?
Nikolaus Stingls sorgfältige Neuübersetzung ist in mehrfacher Hinsicht ein spannungsreiches Leseerlebnis. Sie betont zum einen die Brisanz der besonderen Erzählperspektive aus der Sicht des Oberst Calloway, der sich in Martins Denkweise versetzt. Feinsinnige Ironie und lakonische Metaphern beschreiben nicht nur Rollo Martins »Dichterlesung«. Anstelle der Vorkriegs-Fiaker, Heurigen und des Wiener Schmäh sind die bürokratische Pedanterie der Besatzungsmächte und deren politische Kalküle gerückt.
Wer sich an die kontrastreiche Beleuchtung im Film erinnert, findet diese in den sepiafarbenen Tuschezeichnungen von Annika Siems wieder. Herrlich, wie sie bekannte Wahrzeichen der österreichischen Hauptstadt (Riesenrad) in Szene setzt. Sie spielt mit Licht und Schatten, lässt die Bilder in ihrer Zeit und dem Betrachter noch ein Stück weit Phantasie.
So lebt der (Abwasser)-Untergrund als Kulisse eines grandios dunklen Versteckspiels. Hier genügt der Ansatz einer Treppe, dort zerrt der kleine Junge am Rockzipfel seines Papas. Das Vorsatzpapier ist mit einer Sammlung von Details bestückt, die persönlicher kaum sein können. Mit der kleinen Pappumrandung wird dem Kunstwerk die Krone aufgesetzt, der Leser kann dem Geheimnis haptisch auf den Grund gehen.
Buchgestalterin Cosima Schneider hat alle Finessen bestens umgesetzt. Selbst das Papier passt sich an die grau-braunen Tusche-Schattierungen von Annika Siems an. Ein wunderbares Zeit-Zeugnis, dem viele (alte wie neue) Leser gewünscht seien.
Graham Greene, Annika Siems: Der dritte Mann | Deutsch von Nikolaus Stingl
Edition Büchergilde 2017 | 336 Seiten | Jetzt bestellen