»Tiere« ist ein düsterer Heimatroman mit einer holländischen White-Trash-Familie, die von allen gefürchtet wird. Die »Flodders« waren dagegen geradezu liebenswert, aber hier handelt es sich auch nicht um eine Komödie.
Ich will ja nichts sagen, aber wenn man mich fragt, dann war es um Tom Keller schon geschehen, als seine beiden Onkel ihn nachts in den Wald mitgeschleppt und ihn da Sachen haben machen lassen, die ein Neunjähriger einfach noch nicht machen darf. Sein Vater, Frank, war damit garantiert nicht einverstanden. Oder wahrscheinlich wusste er gar nichts davon, auch wenn er damals noch nicht im Knast saß.
Aber er sollte es früh genug erfahren, sollte erfahren, was wir alle erfahren haben: Johan und Charles haben den armen Knirps in der längsten Nacht des Winters in ihren schrottreifen Volvo verfrachtet, Stahldraht zwischen die Reifen gespannt, sind damit in einem Höllentempo über die gefrorenen Waldwege gepest und haben dann den Knirps, ihr eigen Fleisch und Blut, ihren Neffen, den ganzen Weg zu Fuß zurücklaufen lassen, damit er die geköpften Kaninchen vom Boden kratzt.
Mehrere Generationen der Familie Keller werden in dem Buch beschrieben. Die Keller-Brüder Charles und Johann sind Wilderer, die von allen Bewohnern der Gegend gefürchtet werden. Sie quälen ihren Neffen Tom und nutzen ihn aus, bis sich irgendwann sein Talent als Motocross-Fahrer zeigt. Daraufhin nutzen sie ihn auch noch auf finanzieller Ebene aus. Bis ein Unfall alles verändert.
Toms Tochter Isabella, genannt Isa, schafft Jahre später den Absprung aus dem Kaff und studiert Kunstgeschichte in der Stadt. Doch ihr Leben verläuft nicht in geregelten Bahnen. Ungeklärte Beziehungen, Drogenkonsum und Misserfolge im Studium prägen ihren Alltag. Ihre neue Freundin Erva ist eine militante Tierschützerin und sollte besser nichts von der illegalen Nerzzucht von Isas Onkel erfahren.
Eines Tages verschwindet Tom spurlos und Isa kehrt in ihr Heimatdorf zurück, um nach ihm zu suchen. Allerdings ist sie die Einzige. Ihre depressive, kettenrauchende Mutter hat längst mit allem abgeschlossen und erträgt das Leben nur noch. Großonkel Charles beziehungsweise Scharell droht ihr unverhohlen, sich nicht in seine Angelegenheiten zu mischen. Doch für Isa ist ihr Vater der einzige Mensch, den sie Familie nennen würde.
Nach und nach wird die Familiengeschichte der Kellers aufgedeckt und am Ende des Romans steht eine Gewalteskalation, die manche Handlungsstränge sehr abrupt beendet. Die Wucht des Romans und seine rohe Kraft, die man sonst eher aus amerikanischen Redneck-Geschichten kennt, ziehen einen sofort in den Bann, und durch den verschachtelten Aufbau auf zwei Zeitebenen bleibt die Spannung bis zum Ende bestehen.
Die Schilderungen des harten Lebens in der holländischen Provinz sind oft verstörend, weil die Menschen so grausam miteinander umgehen. Der Autor blendet dort nicht aus, sondern hält voll drauf, bis es wirklich unangenehm wird. Weniger durch körperliche Gewalt, sondern durch Vernachlässigung, Lieblosigkeit und gegenseitige Enttäuschung. Gerade diese Szenen machen »Tiere« zu so einem beeindruckenden und kraftvollen Debüt. Ich bin schon sehr gespannt auf Wilbrinks nächstes Buch.
Gijs Wilbrink: Tiere | Deutsch von Ruth Löbner
Ullstein 2024 | 448 Seiten | Jetzt bestellen