Hatten sie, hatte sie versucht, mit Ricky zu reden? O Gott, ja, immer wieder, jedes Mal, wenn sie ihn traf. Dann zeigte er sich zu Tränen gerührt, versprach sich zu ändern und bettelte um etwas Geld, auf Pump, um seine Autowerkstatt aufzubauen. Seine große Idee war, dass er immer das ganze Auto durchchecken würde. Wieso das eine gute Idee sein sollte, kapierte sie nicht. Wenn man ihm kein Geld leihen wollte, sagte er immer: Ihr seid alle gleich. Eine Woche später hörte man dann, dass er ein Gocart geklaut und in einen Teich gefahren hatte oder dass er in der Kirche irgendwas Rassistisches von sich gegeben hatte oder dass er an einer Überdosis gestorben und dann von den Toten zurückgekehrt war, nur um nach der nächsten Überdosis aus dem Krankenhaus zu rennen und eine Parkuhr zu knacken.
Mit der Zeit hatten sie ihn alle aufgegeben, Außer Tante Janet, die trotz ihrer eigenen Kämpfe (Brandy, nächtliche Panik) Ricky nie aufgegeben hatte, nicht mal nach seinem Tod. Sie unterstützte eine kleine Ecke in der Bücherei, die Ricky-Rodgers-Gedenk-Lesenische, und stattete sie mit Büchern über Drogensucht und Christentum und Autoreparaturen aus.
Ich könnte endlos weiter zitieren. Über George Saunders brauche ich inzwischen wohl nicht mehr viel zu erzählen, außer vielleicht, dass er mit diesem Band ein weiteres Mal seinen Ruf als herausragender Erzähler beweist und festigt.
Nicht alle der neun Geschichten konnten mich gleichermaßen begeistern, dazu sind sie in Form und Inhalt zu unterschiedlich, aber Geschichten wie »Eine Sache auf der Arbeit«, »Muttertag« oder »Mein Haus« sind einfach großartig. Mein absoluter Favorit in dieser Sammlung ist allerdings »Die Mom der kühnen Tat«.
Saunders beschreibt in der Erzählung eine nette Vorstadt-Mom und Hobby-Autorin, die durch eine ärgerliche, aber letztlich doch harmlose Tat vollkommen aus der Bahn geworfen wird. Plötzlich hat ihr ruhiges und zufriedenes Leben keine Bedeutung mehr. Sie schwelgt in Gewaltphantasien, pendelnd zwischen Rache und Gerechtigkeit und radikalisiert sich innerlich immer mehr. Dabei offenbaren ihre Gedankengänge, dass sie stets von den niederträchtigsten Motiven ihrer Mitmenschen und dem schlimmsten Verlauf einer Situation ausgeht. Aus ihrer Sicht handelt sie in guter Absicht und auch gezwungenermaßen in Notwehr. Dabei zeigt sich ihre Bigotterie, wenn sie das Verhalten von Fremden negativer beurteilt, als die wesentlich schlimmeren Taten ihres Verwandten Ricky.
Die Geschichte vermittelt sehr eindringlich das Gefühl allgegenwärtiger Bedrohung, von ständig wachsender Angst und den daraus folgenden, völlig überzogenen Reaktionen. Alles Symptome unserer Zeit, nicht nur in Amerika. Befeuert von den Sozialen Medien, in denen man auch zu den abstrusesten Ansichten Bestätigung und Unterstützung findet, wandeln sich ganz gewöhnliche Menschen in tickende Zeitbomben. Saunders stellt diesen Prozess ganz ohne drastische Effekte dar. Stattdessen entlarvt er die Figuren mit Humor, aber ohne sie lächerlich zu machen. Eine ganz und gar beeindruckende Geschichte.
George Saunders: Tag der Befreiung | Deutsch von Frank Heibert
Luchterhand 2024 | 320 Seiten | Jetzt bestellen